Seltsames Wasser
Als ich am nächsten Tag aufwachte, war gerade die Sonne aufgegangen und schien durch das Fenster. Ich richtete mich auf und schaute mich um, dann fiel mir wieder ein, dass ich gar nicht zu Hause war, sondern auf Uu Eitaku, und auch Kilia kam mir wieder in den Kopf. Insgeheim freute ich mich schon darauf, sie wiederzusehen. Müde richtete ich mich auf. Mein Blick fiel zu Boden, und ich erstarrte. Die Fliesen hatten ein anderes Muster! Gestern waren sie noch schlicht und grau gewesen, heute waren sie mehr weiss und jede zeigte drei Wellen übereinander. Wo Sonnenlicht auf sie fiel, schienen sie sich langsam zu bewegen. Ich rieb mir die Augen, lief schliesslich ins Bad und wusch mir das Gesicht - aber die Fliesen behielten dieses wellige Muster trotzdem. Ich dachte verwundert nach. Hatte ich versehentlich ein anderes Zimmer genommen? Ich öffnete die Tür und schaute nach - nein, die Zimmernummer war dieselbe. Oder fiel mir das Muster deshalb auf, weil durch die Regenwolken erst nicht so viel Licht ins Zimmer gelangte und jetzt die Sonne schien? Egal, ich beschloss, mich erstmal anzuziehen. Gerade, als ich mit dem Rasieren fertig war, klopfte es an meiner Tür. "Herein!" rief ich aus dem Badezimmer. Die Tür öffente sich. Ich trocknete mich schnell ab und verliess das Bad. "Guten Morgen, Tata", sagte Kilia und stellte das Tablett auf den Tisch. Dabei fiel für einen Moment die Sonne auf ihr Haar und liess es hellgrün erscheinen, was mir unheimlich gut gefiel. "Habt Ihr gut geschlafen, Tata?" fragte sie. "Hm, ja, danke", antwortete ich. "Sag mal, Kilia: Siehst du auch diese Wellen auf den Fliesen?" Kilia schaute zu Boden. "Nein, Tata, ich sehe keine Wellen. Sind da welche?" Ich schluckte, denn eigentlich hatte ich eine andere Antwort erhofft. "Ja, hier zum Beispiel", sagte ich und hockte mich hin. Kilia tat es mir nach. Mit dem Finger zeichnete ich die Wellen nach. Es war, als wären sie direkt auf die Fliesen gemalt worden. Kilia schaute mir aufmerksam zu, dann sagte sie: "Solche Fliesen haben sie im Stadtbad. Wollt Ihr hingehen?" Ich überlegte. Mein Kurplan hätte morgen sowieso Wassertreten vorgesehen, eine Übung, die ich nicht gerade mochte und immer froh war, wenn ich sie hinter mir hatte. "Ja", sagte ich, "anders kann man der Sache wohl nicht auf den Grund gehen". Ich stand auf. "Lass uns nun erstmal frühstücken." Das Frühstück hatte zwar dieselben Bestandteile wie gestern, diesmal hatte Kilia allerdings einen Obstsalat zum Nachtisch besorgt und gekochte Eier. Ich zeigte ihr, wie man sich mit der Schale einen Nasenschoner basteln konnte, was sie sehr amüsant fand, sowas hatte ihr noch niemand zuvor gezeigt. Auch war mein Appetit endlich zurückgekehrt, und ich genoss es in vollen Zügen. Kilia erzählte von einigen komischen Zwischenfällen in der Küche und lachte viel dabei. Ihr Lachen war direkt herzerwärmend. Sie hatte nicht nur schöne Hände, sondern auch eine schöne Stimme, und es machte einfach Spass, mit ihr zu frühstücken, überhaupt mit ihr zu essen. Als sie das Tablett wegbrachte, nahm ich meine kleine Tasche und packte die Badesachen ein. Dann brachen wir zum Stadtbad auf. Ich erklärte Kilia, dass ich nicht vorhatte, zu schwimmen, sondern dieses unangenehme Wassertreten hinter mich bringen wollte, damit ich mich morgen auf etwas Angenehmeres freuen konnte. "Warum ist Wassertreten so unangenehm für Euch?" fragte sie. "Weisst du, da wo ich herkomme, geht das Wasser dabei nur bis zu den Knöcheln. Hier steht es einem aber bis zum Bauchnabel und ist immer so klirrend kalt." Sie lachte. "Ihr könnt ja gleich anschliessend ins Dampfbad gehen, dann wird Euch schnell wieder warm." "Gute Idee, Kilia. Dann musst du mir allerdings einen Hut besorgen, damit man nicht sieht, wie es mir aus den Ohren dampft." Sie lachte wieder. Wir standen jetzt vor dem Tor des Stadtbades. Als ich eintreten wollte, blieb sie stehen. "Kommst du nicht mit?" fragte ich. "Nein, ich darf nicht", sagte sie. "Warum nicht?" Sie schaute mich überrascht an, dann sagte sie: "Ich bin kein Mann." Siedend heiss fiel es mir auf, dass ich gerade eine dumme Frage gestellt hatte. Zwar gab es bei den Eitakunern die alten Traditionen, durch den Kontakt mit anderen Völkern waren aber auch neue hinzugekommen und so hatten sich die traditionellen Einflüsse mit den modernen gemischt. Trotzdem wollte man an der Geschlechtertrennung nach wie vor festhalten. So gab es ein Stadtbad für Männer und eines für Frauen. Mit Schulen und Krankenhäusern verfuhr man ebenso. Der Zutritt für das jeweils andere Geschlecht war streng verboten. Immerhin hatte man sich beim Stadtbad etwas einfallen lassen, damit man wenigstens sehen konnte, ob sich der Partner noch im Bad befand: Man konnte eine Treppe benutzen, die um das Gebäude herum zu einer Galerie führte, und durch eine Art Milchglasscheibe ins Bad zu schauen. Viel mehr als verschwommene Gestalten sah man allerdings nicht. "Ist das bei Euch immer noch so?" fragte ich Kilia, "also wenn ich hier Bürgermeister wäre, würde ich das als erstes abschaffen!" Sie lächelte. "Keine Angst, Ihr seid nicht allein. Ich werde Euch von der Gallerie aus zusehen", versicherte sie amüsiert. Wir verabschiedeten uns und ich trat ein.
Das Stadtbad hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem römischen Bad und bestand aus zwei Stockwerken. Im oberen Stockwerk befanden sich die Umkleinekabinen, im Erdgeschoss die Schwimm- und Tretbecken und Dampfbäder. Ein Tretbecken war stets mit kaltem Gebirgswasser gefüllt, sein Untergrund fing zunächst flach an und endete in etwas weniger als einem Meter Wassertiefe. Darin hatte man nun langsam seine Runden zu drehen. Die Anzahl der Runden war nicht vorgeschrieben, zwölf sollten es allerdings schon sein, wer weniger aushielt, galt als Feigling. Das letzte Mal hatte ich das nur durchgehalten, weil ich mich darauf konzentriert hatte, dauernd an die Lurgana-Bucht zu denken. Diese vergetationsreiche Berglagune war eines der beliebtesten Touristenziele auf Uu Eitaku, besonders weil sie einen so feinen und weissen Sandstrand bot, wie man ihn sonst selten fand. Ich hatte mich also umgezogen und stand jetzt vor dem Tretbecken. Zum Glück war nicht viel los, nur wenige Besucher benutzen es gerade, ich brauchte mich also nicht zu beeilen. Hoffnungsvoll schaute ich zu den Fenstern der Gallerie hinauf, sah dort aber nur verschwommene Gestalten. Es war unmöglich auszumachen, welche davon Kilia war. "Also, bringen wir es hinter uns", dachte ich mir und machte den ersten Schritt. Aber kaum hatte ich das Wasser berührt, zog ich ruckartig meinen Fuss zurück - das Wasser war nämlich nicht wie erwartet bitter kalt, sondern kochend heiss! Ich machte noch einen zweiten Versuch, aber das Wasser fühlte sich weiterhin ungewöhnlich heiss an. Dabei konnte das gar nicht sein, denn es befanden sich ja Besucher im Wasser, die sowas nie im Leben ausgehalten hätten, stattdessen zogen sie in aller Ruhe ihre Bahnen, als wäre es wie immer. Ich beschloss, den Bademeister anzusprechen. "Verzeiht, mir kommt das Wasser hier sehr warm vor. Könnt Ihr das bestätigen?" fragte ich ihn höflich. Der Bademeister überprüfte die Temperatur, in dem er die Hand ins Wasser liess, und schüttelte dann den Kopf. "So kalt wie immer, Tata", bestätigte er mir. "Habt Dank." Irgendetwas stimmte nicht. Ich beschloss, das Wasser zu meiden und nur ins Dampfbad zu gehen. Im kreisrunden Dampfbad war es angenehm warm. Ich nahm auf der Bank Platz. Um mich herum sassen noch ein paar Männer, die schweigend vor sich hinschwitzten. Ich begann darüber nachzugrübeln, warum das Wasser für mich vorhin so heiss war und für andere nicht, aber nach einer Weile schweiften meine Gedanken ab. Der Dampf wurde immer dichter und dichter, bald sah ich nichts mehr von den anderen Personen um mich herum. Dafür schien sich auf einmal der Boden zu öffnen und gaben den Blick auf eine grüne Berglandschaft frei, über die Wolken hinwegzogen. Ich sah auch einen See, und an diesem See stand eine Gestalt. Es schien eine Frau zu sein, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Kilia hatte und mir zuwinkte. Ich winkte zurück, dabei rutschte ich plötzlich ab, fiel durch das Loch und raste auf die Erde zu. Mein Verstand schlug Alarm, bei dieser Geschwindigkeit würde ich das sicher nicht überleben. Verzweifelt versuchte ich mich irgendwo festzuhalten und schrie Kilias Namen... und dann prallte ich auf.
Langsam öffnete ich die Augen. Ich befand mich immer noch im Dampfbad, lag allerdings mit dem Gesicht auf der Bank. Wahrscheinlich war ich eingeschlafen, dann abgerutscht und mit dem Kopf auf der Sitzfläche aufgekommen, die glücklicherweise aus Holz war. Verwirrt und ein bisschen schwach auf den Beinen verliess ich das Bad und machte mich auf zur Umkleidekabine. Während ich mich umzog, überlegte ich, ob ich meine Erlebnisse Kilia erzählen sollte. Sie könnte mich für verrückt halten. Andererseits hatte sie mir bisher geglaubt, obwohl sie die Wellen auf den Fliesen nicht sehen konnte, sie hatte mir sogar gesagt, was sie bedeuteten. Ich hatte also keinen Grund, ihr zu misstrauen. Die Frage war nur: Würde sie immer noch auf mich warten?
Ich hatte gerade das Stadtbad verlassen und mich umgeschaut, aber ich sah sie nicht. Nachdenklich drehte ich mich um und hörte plötzlich jemanden sagen: "Hallo Tata, hier bin ich." Kilia stand tatsächlich vor mir und lächelte. Verwirrt sah ich sie an. Kilias Lächeln wich Verwunderung. "Tata, stimmt etwas nicht?" fragte sie. "Ich habe wieder so merkwürdige Dinge erlebt", antwortete ich und seufzte. "Was für Dinge?" Oha, jetzt wurde es ernst. Aber da musste ich durch. "Ich wollte ins kalte Wasser gehen, aber für mich fühlte es sich kochend heiss an, auch nachdem ich es mehrmals probiert hatte. Deshalb habe ich den Bademeister gefragt, aber der sagte mir nur, dass das Wasser so kalt wäre wie immer." Ich schaute sie an. Sie hörte mir ganz aufmerksam zu und machte nicht den Eindruck, als würde sie meine Antwort für Nonsens halten. Also fuhr ich fort: "Dann bin ich in das Dampfbad gegangen. Dort bin ich wohl eingeschlafen und habe davon geträumt, dass sich unter mir der Boden öffnet. Unter mir befand sich eine Berglandschaft mit einem See, und an dem stand eine Frau, die so aussah wie du. Ich bin abgerutscht und fiel genau auf diesen See zu. Und dann bin ich aufgewacht." Kilia hörte mir weiter zu, ganz ruhig. Ich hatte den Eindruck, als würde sie versuchen, mich zu verstehen. "Das ist ziemlich viel Tobak, oder?" fragte ich sie. Zu meiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. "Nein, Tata, ich bin sicher, es gibt bestimmt einen Grund, warum das alles passiert ist", sagte sie. "Klingt beruhigend", dachte ich und kratze mich am Kopf. "Wie spät ist es jetzt eigentlich?" fragte ich sie. "Ich habe keine Ahnung, wie lang ich da drin war." "Es ist jetzt genau halb zwölf, Tata." "Gut, gehen wir erstmal essen." Auf dem Rückweg schilderte ich Kilia nochmal genau, was passiert war. "Ich muss nochmal dahin", sagte ich, "so schnell wie möglich. Aber dann dürfen keine anderen Leute da sein." "Dann geht es nur abends. Eine Stunde, bevor sie schliessen, sind meistens nicht mehr viele da." "Und diesmal musst du mit dabei sein, Kilia." Kilia schaute mich verdutzt an. "Tata, Ihr wisst doch...", wollte sie erklären. Aber ich schnitt ihr das Wort ab. "Ja, ich weiss, dass du kein Mann bist. Aber ich brauche unbedingt jemanden, dem ich vertrauen kann." Kilias Miene hellte sich plötzlich auf. "Danke, dass Ihr mir euer Vertrauen schenkt, Tata." Es kam nicht oft vor, dass ein Gast seiner Dienerin so offen das Vertrauen aussprach. Für eine Dienerin war das eines der schönsten Komplimente, die man ihr machen konnte. "Also, kommst du mit?" fragte ich sie. Sie nickte. "Gut. Wann können wir hingehen?" "Heute nacht. Ich muss nur vorher kurz etwas aus dem Haus meiner Eltern holen." "Und wie kommen wir rein? Nachts ist die Tür sicher zu." Kilia lächelte verschmitzt. "Verlasst Euch auf mich, Tata. Ich kenne einen Weg."
Zum Mittagessen gab es Fisch mit Kabbslabbs, einem seltsamen Gemüse, das ich noch nicht kannte. Kilia brachte mir bei, wie ich so zerlegte, dass ich das meiste davon essen konnte. Sie erklärte, dass es verschiedene Arten gab, es zuzubereiten, zum Beispiel auch mit zerlassener Butter oder einer besonderen Sosse und dass man es auch knusprig braten könnte, wobei man es aber nicht zu lange stehenlassen sollte, weil es sonst zu hart wird. Ich fand es herrlich, was sie mir darüber erzählte und hätte darüber beinahe den Nachtisch vergessen, der aus einer Art Kompott bestand.
Für den Nachmittag hatte der Kurplan Laufen vorgesehen. In der Gegend um die Stadt gab es hervorragende Laufwege, einen davon mochte ich besonders, weil er an einem See und dann durch eine Allee alter, grosser Bäume führte, an deren Ende man unter einer langen Brücke durchlief und dann zum Ausgangspunkt zurückkehrte. Das schöne Wetter war ideal dazu. "Läufst du mit?" fragte ich Kilia. "Gerne, Tata", sagte sie. Ich hatte den Eindruck, sie freute sich, dass ich sie gefragt hatte. Dienerinnen waren normalerweise nicht verpflichtet, alle Aktivitäten des Gastes mitzumachen, und es gab auch etliche Gäste, die der Meinung waren, die Dienerinnen würden sie nur aufhalten oder müssten nicht sehen, wie sie sich abquälten. Mir war das ehrlich gesagt reichlich egal, ich war der Meinung, dass viele Dinge nur dann Spass machen, wenn man sie gemeinsam tun konnte. Kilia brachte das Tablett weg und zog sich um, ich tat es ebenfalls, und kurz darauf trafen wir uns vor dem Kurhaus wieder. Sie trug jetzt ein weisses Kapuzenhemd mit kurzen Ärmeln, das ihr bis vor die Knie fiel. Darunter hatte sie ein dünnes, weites Beinkleid an. Das lag nicht daran, dass nackte Frauenbeine in der Öffentlichkeit hier als unschicklich galten, sondern dass wir auf einem Teil der Strecke dem offenen Wind ausgesetzt waren und man sich dann, wenn man schwitzte, leicht erkälten konnte. Ich selbst trug meinen Trainingsanzug, ebenfalls mit langer Hose. Wir liefen los. Das Wichtigste beim Laufen ist, dass man seinen Takt findet. Läuft man zu schnell, ist man bald verausgabt und muss eine Zwangspause einlegen, läuft man dagegen zu langsam, wird es einem schnell kalt. Ich startete erst relativ langsam und steigerte dann das Tempo allmählich, bis ich meinen Takt gefunden hatte. Kilia lief die ganze Zeit neben mir. Ihr schien es überhaupt nicht zu schnell zu sein, sie schaufte zwar ebenso leise wie ich, wurde aber nie langsamer. Wir waren beide keine geübten Läufer, aber auf eine seltsame Weise liefen wir sozusagen im Gleichklang. Während ich noch darüber nachdachte, hatten wir die grosse Allee erreicht. Der Anblick war atemberaubend: Die Sonne schickte ihre Stahlen durch die Zwischenräume der Bäume, deren Blätter vom lauen Wind bewegt wurden, über uns zogen weisse Wolken vorüber und von irgendwoher hörte ich das Singen eines Vogels. Das Gefühl, zudem nicht allein zu sein, liess mich diesen Augenblick geniessen, so dass ich für eine Weile jeglichen Kummer vergass. Die Allee war zu Ende und gab nun den Blick auf eine hölzerne Brücke frei. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, dass es auf dieser Strecke eine Brücke gab, aber ich war ja auch schon einige andere Strecken gelaufen, es konnte also sehr gut sein, dass ich es nur vergessen hatte. Unter der Brücke war ein See und das andere Ufer schien nicht weit entfernt zu sein, also dürfte es nicht lange dauern, bis es erreicht sein würde. Ich kam nochmal ins Grübeln, ob ich diese Brücke schonmal gesehen hatte, und wie wohl der See hiess, der unter ihr lag. Aber so sehr ich auch nachdachte, mir wollte kein Name einfallen. Daher wollte ich mich wieder auf das Laufen konzentrieren - und stellte zu meiner Überraschung fest, dass das andere Ufer kein Stück näher gekommen war. Verwundert schaute ich neben mich und fühlte mich plötzlich wie vom Schlag getroffen - Kilia war nicht mehr da! Ich hielt erstmal an und schaute mich um. Offenbar stand ich mitten auf der Brücke, der See schien seine Grösse nicht verändert zu haben. Von Kilia sah ich weit und breit keine Spur. Hatte sie eine Pause gemacht und mir nichts gesagt? Aber sowas hätte sie nie getan, da war ich mir sicher. War sie vielleicht irgendwo hineingefallen und ich, total in Gedanken versunken, hatte es nicht bemerkt? Ich beschloss, zurückzulaufen und rannte los. Aber so sehr ich mich auch abhetzte, das Ufer wollte nicht näherkommen. Ich rannte so schnell ich nur konnte, bis ich völlig ausser Atem war und anhalten musste, aber dennoch befand ich mich immer noch in der Mitte der Brücke. Ich schaute mich nochmal um. Unter mir war der See, auf dem der Wind kleine Wellen blies, neben mir die grünen Berge, und über mir die weissen Wolken, wie noch immer friedlich dahinzogen. Nichts deutete darauf hin, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging - dachte ich zumindest. Plötzlich stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass sich etwas veränderte. Das Ufer schien sich zu entfernen. Nein, es war nicht das Ufer, aber das Wasser stieg immer mehr. Schon betrug der Abstand zwischen Brückenboden und See nur noch wenige Zentimeter. Ich konnte zwar schimmen, das würde mir aber nichts nützen, weil ich dauernd auf derselben Stelle bleiben würde. Jetzt stand mir das Wasser schon bis zum Hals. Ich konnte nichts mehr tun und rief nur noch verzweifelt Kilias Namen.... "Tata?" hörte ich eine Stimme. Dort, wo sich eben noch das Wasser befand, sah ich stattdessen Kilias grüne Haare, mit denen der Wind spielte. Sie stand vor mir und sah mich verwundert an. Die Brücke und der See waren verschwunden, wir waren offenbar immer noch in der grossen Allee. "Was ist, Tata?" fragte sie. "Ich... ich bin froh, dass du da bist", stammelte ich. Sie lächelte. "Ich war die ganze Zeit da, Tata. Neben Euch." Ich blinzelte verwirrt. "Was... ist denn passiert?" "Ihr habt plötzlich angehalten und meinen Namen gerufen, Tata. Mehr nicht." Ich hielt die Hand vor den Kopf. Nein, Fieber hatte ich nicht. Dann sah ich Kilia wieder an. "Ich... ich hatte eben wieder eine Vision", sagte ich. "Was für eine Vision, Tata?" fragte Kilia. Ich erzählte sie ihr. Kilia dachte kurz nach. "Vielleicht bedeutet das, dass Ihr auf einem Weg zu irgendwas seid, aber noch nicht wisst, wo er endet." Ich dachte nach. Die Erklärung hatte etwas für sich. Kilia war wirklich nicht auf den Kopf gefallen. "Du könntest recht haben, Kilia." Sie lächelte wieder, und dieses Lächeln war so schön, dass es mich meinen gerade erlebten Schrecken schon fast wieder vergessen lies. "Danke, Tata. Wollt Ihr jetzt weiterlaufen?" "Ja, aber lauf du voraus." Kilia folgte. Sie hatte bald wieder dieselbe Geschwindigkeit eingenommen. Ich fand es schön zu sehen, wie sie vor mir herlief und sich ihre Haare im Wind bewegten. Ehrlich gesagt fragte ich mich sogar, warum ich nicht schon früher auf diese Idee gekommen war.
Als wir wieder beim Kurhaus ankamen, ging es schon auf den Abend zu. Wir beschlossen, erstmal zu essen und uns dann umzuziehen. Kilia wechselte ihre Kleidung nicht bei mir, sondern ging dazu ins Wohnheim, wo sie und andere Dienerinnen untergebracht waren. Als sie wiederkam, fragte sie mich: "Tata, kann ich eben nach Hause? Ich muss etwas holen und bin in einer Stunde zurück. Wir treffen uns dann vor diesem Kurhaus." "Ist gut, Kilia." Ich wunderte mich zwar darüber, was sie holen musste, aber es hatte sicher seine Gründe.
Eine Stunde später war die Sonne bereits untergegangen und es war merklich kälter geworden. Ich stand vor dem Kurhaus, wartete auf sie und ging dabei auf und ab. Plötzlich hörte ich eine Stimme neben mir. "Psst!" Ich drehte mich um und erschrak. Eine schwarze Kapuzengestalt hatte mir aufgelauert. Instinktiv trat ich einen Schritt zurück. "Tata, ich bin es, Kilia." sagte die Gestalt und nahm die Kapuze soweit herunter, dass ich ein Gesicht sehen konnte. "Puh, da bin ich aber froh", gestand ich, "wo hast du denn dieses Gewand her?" "Von meinem Onkel. Er ist Mönch und wohnt in der Nähe meiner Eltern. Hier, ich habe auch eins für Euch mitgebracht." Sie übergab mir das Gewand. Ich schaute mich um, ob uns nicht doch jemand sah, dann warf ich es mir über. "Können wir gehen?" fragte sie. Ich nickte. "Gut, folgt mir, Tata."
Von weitem sah es jetzt tatsächlich so aus, als wären da zwei Mönche unterwegs, was in dieser Stadt nichts Ungewöhnliches war. Es gab hier in der Nähe so viele Tempel und Anlagen, dass man praktisch zu jeder Tageszeit einem Geistlichen begegnen konnte. Die Tarnung war also wirklich eine gute Idee.
Im Dunkeln kannte ich mich noch weniger aus in der Stadt als am Tage, und ich war froh, dass Kilia voranging, denn ohne sie hätte ich mich schon nach fünf Minuten hoffnungslos verlaufen. Als ich kurz nach oben schaute, waren keine Sterne zu sehen, demnach war der Himmel also voller Wolken, was die Stadt noch mehr in Dunkelheit hüllte. Uns begegnete zum Glück niemand, nur ab und zu sah ich mal jemand mit einer Laterne gehen, aber es war immer weit weg. Dann waren wir vor dem Stadtbad angelangt. In der Nacht wirkte es noch viel grösser als tagsüber. Ich schaute mich um, aber niemand schien in der Nähe zu sein. Kilia führte mich zur Treppe, über die man zur Gallerie kam. Wir gingen hinauf, die Gallerie entlang und blieben vor einem grossen Schrank stehen. Kilia durchsuchte ihre Taschen, zog schliesslich einen Schlüssel hervor und öffnete den Schrank. Dann stieg sie hinein - und war auf einmal verschwunden. Ich wunderte mich noch, wie man so schnell in einem Schrank verschwinden konnte, da tauchte ihre Hand wieder auf, packte mein Gewand und zog mich hinein. Kurz darauf fand ich mich in einem Gang wieder. "Kilia, ich verstehe nicht, was suchen wir denn in einem Schank?" Sie kicherte. "Der Schrank ist eine Tür, Tata. Früher konnte man direkt von der Gallerie ins Bad gehen, dann wollten sie den Durchgang zumauern, hatten aber nicht genug Geld. Also haben sie erstmal diesen alten, schweren Schrank davor gestellt. Als ich noch klein war, entdeckte ich beim Spielen hier oben den Schlüssel und später haben meine Freunde die Rückwand vom Schrank durchgesägt. So kamen sie dann immer umsonst ins Bad. Moment!" Sie schloss die Schranktür und machte dann ein Zeichen, dass ich ihr folgen sollte. Wir schlichen uns vorsichtig um ein paar Ecken, gingen dann eine Treppe herunter und standen schliesslich in der Badehalle, in der sich auch die Tretbecken befanden. Wir nahmen unsere Kapuzen herunter. "Danke, Kilia. Du bist klasse!" sagte ich. Leider konnte ich nicht sehen, ob Kilia lächelte, denn gerade fiel ihr ein Schatten auf das Gesicht. Aber ich konnte es ahnen. Das Wasser im Tretbecken war völlig ruhig. Neugierig näherte ich mich und liess einen Finger vorsichtig eintauchen. Es war kalt. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Es war genau so, wie ich es erwartet hatte. Kilia war mir gefolgt, hockte sich hin und tauchte ebenfalls ihren Finger in das Wasser. Mir standen plötzlich die Haare zu Berge, denn das Wasser begann sich zu verändern: Erst war es nur ein wenig hell, wurde dann immer heller und leuchtete schliesslich, als würde es von unten direkt angestrahlt werden. "Das Wasser ist kalt, Tata", bestätigte sie schliesslich. Als sie merkte, dass ich nicht reagierte, sagte sie: "Tata, was ist?" "Das Wasser... " antwortete ich, ohne sie anzusehen, "es leuchtet!" "Wie denn?" "Blau und weiss." Ich schaute sie an, dann wieder das Wasser. Die Wellen, die das Eintauchen unserer Finger verursacht hatten, vereinigten sich und begannen zu funkeln. "Kannst du sehen, wie die unsere Wellen funkeln?" fragte ich Kilia. Sie schüttelte den Kopf. Ich seufzte. "Du hältst mich doch sicher für verrückt, Kilia", sagte ich mit einer deutlichen Spur von Resignation in der Stimme. Sie schaute mir direkt in die Augen und antwortete: "Nein, Tata, Ihr seid nicht verrückt." Sie sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die mich restlos erstaunte. Ich fragte mich, wie sie da so sicher sein konnte, denn mir kamen allmählich Zweifel. Während ich sie ansah, bemerkte ich, dass sich das Leuchten des Wassers in ihren Augen wiederspiegelte. Diese Szene hatte etwas Unwirkliches an sich: Hinter ihr befand sich das helle Wasser, davor hob sich ihre dunkle Silhouette deutlich davon ab, während gleichzeitig ihre Augen deutlich schimmerten. Ich hatte das Gefühl, als hätte jemand ein Bild gemalt, um mir damit etwas ganz deutlich zu sagen. Aber was hatte es zu bedeuten? Ich kam nicht mehr dazu, gross darüber nachzudenken, denn das helle Wasser begann plötzlich zu brodeln und brausen und auf einmal standen wir im dichten Nebel. Ich sah nur noch schemenhafte Gestalten um mich herum, die seltsame, murmelde Geräusche machten, und dann begann es auch noch immer lauter zu rauschen, so als würde eine Riesenmenge Wasser auf mich zuströmen. Automatisch wich ich zurück, versuchte den Gestalten auszuweichen und stiess dann mit dem Rücken auf etwas Hartes. "Kilia!" hörte ich mich rufen. "Ja, Tata?" Ich schaute sie verwirrt an. "Wo sind wir?" "Im Stadtbad vor dem Tretbecken, Tata." Wir standen tatsächlich noch genau dort, nur dass der Nebel und die Gestalten verschwunden waren und das Wasser nicht mehr leuchtete, sondern still und friedlich vor uns lag, so als wäre nichts geschehen. "Habe... habe ich dir erzählt, dass das Wasser geleuchtet hat?" fragte ich unsicher. "Ja, Tata", bestätigte Kilia, "und dann habt Ihr nach einer Weile nach mir gerufen." Ich schaute mich um. Trotz der Stille kam mir das Stadtbad immer noch unheimlich vor. "Gehen wir zurück, Kilia. Mir reicht es." "Ja, Tata." Auf dem Rückweg erzählte ich Kilia, was passiert war, bevor ich ihren Namen gerufen hatte. Sie erklärte mir, dass für sie das Wasser die ganze Zeit dunkel gewesen war und sie weder Nebel noch irgendwelche Gestalten gesehen hatte. Dann fragte sie mich, wie ich das gemeint hätte, dass unsere Wellen funkelten. Ich schilderte ihr, was ich gesehen hatte. "Das klingt romantisch, Tata. Ich wünschte, ich hätte es auch sehen können." Sie nieste. "Jetzt aber gleich ins Bett, Kilia", sagte ich. Bis zum Kurhaus war es ohnehin nicht mehr weit. Sie nickte. Ich gab ihr schnell das Gewand, dann verabschiedeten wir uns. Als ich in meinem Zimmer war, schaute ich zuerst auf die Fliesen, aber das wellige Muster war verschwunden, sie sahen wieder so aus, wie ich es gewohnt war. Da kam mir eine Idee. Um sie zu verwirklichen, musste ich morgen aufstehen, bevor Kilia da war. Ich schrieb mir also die Idee auf einen Zettel, stellte den Alarm meines Kommmunikators entsprechend ein, fiel müde ins Bett und war nach kurzer Zeit eingeschlafen.
In der Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich befand mich in einem grossen Saal eines riesigen Schlosses. Dieser Saal hatte keine Fenster und nur ein hölzernes Tor. Fackeln an den Wänden leuchteten den Saal aus, an dessen Wänden ich Bilder sah, in denen Personen abgebildet waren, die ich teilweise kannte, die mir aber zum Teil auch völlig fremd waren. Irgendwas in diesem Raum wirkte bedrohlich, und ich beschloss ihn zu verlassen, aber das Tor war verschlossen. Ich rüttelte heftig am Türschloss, konnte es aber nicht ablösen. Gerade, als ich mich resigniert umdrehte, kam plötzlich Kilia auf mich zu, langsam und wie in Zeitlupe. Sie sagte nichts, sondern übergab mir nur einen Schlüssel. Dann war es so, als würde sie mitten durch mich hindurchschreiten und verschwand. Ich wollte ihren Namen rufen, aber in diesem Augenblick wachte ich auf. Verwirrt schaute ich auf meine Armbanduhr: Es war 3:30 Uhr morgens. Hatte der Traum etwas zu bedeuten, oder hatte ich mir nur Unsinn zusammengesponnen? Während ich darüber nachdachte, schlief ich wieder ein.
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