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Nachtgewitter

"Was ist das?" fragte ich ihn.
"Kurz bevor Batakinia starb, sagte sie zu ihren Besuchern, dass sie sich keine Sorgen machen müssten, sie würde immer ein Licht für sie sein. Seitdem ist diese Kugel fünf Mal erschienen und hat eine prophetische Botschaft überbracht - allerdings nur Mönchen. Früher glaubte man mal, man bräuchte nur ein Bataki-Fest feiern, dann würde sie automatisch erscheinen, sie tat es aber nicht, sondern erschien völlig unerwartet mal hier und mal da. Ihre Botschaft war nie leicht zu verstehen, aber immer wichtig. Dass sie zwei Menschen gleichzeitig erleben, ist bisher noch nie passiert. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen."
"Frata, ich denke schon die ganze Zeit nach, was ihre Botschaft bedeuten könnte. Wie versteht Ihr sie?" wollte ich jetzt wissen.
Bruder Ambrusius dachte nach.
"Licht und Wind, das kann vieles bedeuten", antwortete er schliesslich, "sie könnte Sonnenschein meinen oder genauso eine Kerze, und windig ist es hier in der Gegend auch oft. Seltsam."
"Ist Batakinia oft durch Licht und Wind gegangen?"
"Batakinia war bei Wind und Wetter unterwegs, es hat sie nie abgehalten, zu den Menschen zu kommen. Aber ich glaube nicht, dass sie von Euch dasselbe verlangt."
"Und was bedeutet das: Sie wird mich erreichen? Sie ist doch schon lange gestorben."
Der Mönch lachte geheimnisvoll.
"Batakinia ist genauso von dieser Welt gegangen wie alle anderen auch", erklärte er. "Aber sie war ein aussergewöhnlicher Mensch, und deshalb haben wir von ihr Aussergewöhnliches zu erwarten. Wisst Ihr, ich bin mir sicher, je mehr man daran glaubt, dass sie noch irgendwie existiert, desto grösser ist die Chance, dass es tatsächlich so ist, auch wenn wir uns das nicht erklären können."
"Und was glaubt Ihr?" fragte ich ganz direkt.
"Ich bin fest davon überzeugt, dass sie ab und zu nachsieht, ob wir immer noch alles richtig machen", erklärte er halb ernst, halb schmunzelnd. "Batakinia kümmerte sich mit Leidenschaft um ihre Mitmenschen, ihr grösster Wunsch war es stets, zu helfen. Ich denke nicht, dass dies mit ihrem Tod so einfach aufgehört hat."
In diesem Augenblick war ein leiser Donner zu hören. Ich schaute hinaus und sah, dass der Himmel bereits pechschwarz war und der Wind zugenommen hatte. Die Bäume rauschten, Blätter flogen durch die Luft. Jeden Augenblick würde es anfangen zu regnen.
Bruder Ambrusius schloss die Fenster.
"Ich schlage vor, ihr beide bleibt erstmal hier, bis das Unwetter wieder vorüber ist. Ihr könnt mit uns essen. Heute gibt es zwar nur Erratja-Suppe, aber mit dem richtigen Brot dazu schmeckt sie ausgezeichnet."
Erratja waren etwa mit Kartoffeln vergleichbar. Sie hatten einen ähnlichen Geschmack, wuchsen aber auf merkwürdigen Bäumen, deren Äste nicht nach oben, sondern von oben nach unten in die Erde wuchsen. Sehr alte und grosse Erratja-Bäume sahen deshalb manchmal aus, als hätte jemand ein Zelt errichten wollen und nur die Plane vergessen. Die Eitakuner hatten diese Bäume früher allerdings gern als Unterschlupf gegen plötzliches schlechtes Wetter genutzt. Manche Einsiedler wohnten sogar darin und hatten mit den Früchten eine stetige Nahrungsquelle.
"Kann ich Euch helfen?" fragte Kilia. Ich bot ebenfalls meine Hilfe an.
Der Mönch war sichtbar gerührt.
"Danke, das braucht Ihr nicht. Die Suppe hatten wir schon gestern fertig, aber Bruder Mataschuk hat mal wieder so viel gekocht, dass es für drei Tage reicht. Es ist seine Lieblingssuppe. Kommt jetzt."
Wir folgten ihm wieder und standen nach einer Weile in einem langen Saal, der durch eine Reihe Säulen in der Mitte zweigeteilt wurde. In der einen Hälfte standen Tische und Bänke, in der anderen eine Art Skulptur, die einen grossen Stern aus Metall trug. Batakinia hatte sich Zeit ihres Lebens ausdrücklich dagegen ausgesprochen, dass man Statuen von ihr errichtet oder Bilder malt, denn das hätte ihrer Meinung nach die Menschen nur verleitet, sie anzubeten und sich weniger mit dem zu befassen, was sie ihnen beibringen wollte. Und weil einer ihrer berühmtesten Sätze lautete, dass sie den Menschen immer ein Licht sein wollte, stellte man sie stattdessen entweder als Lichtkugel oder Leuchtstern dar.
Einige andere Mönche standen bereits im Raum. Bruder Ambrusius stellte uns ihnen vor. Merkwürdigerweise stiess meine Anwesenheit hier nicht auf grosse Neugier. Für sie war ich ein Gast, und damit waren sie zufrieden, mehr wollten sie nicht wissen.
Die Suppe schmeckte wirklich gut. Dazu wurde uns Schmarruk gereicht, eine Art langes Brot, aber dunkel und relativ körnig, was gut zur Suppe passte. Auch die Skulptur bekam ein Stück Brot an die Seite gestellt. Der Mönch erklärte uns, dass sie Batakinia so dafür danken wollten, nicht hungern zu müssen. Später wurde es dann als Tierfutter verwendet. Als ich fertig war, schaute ich durch die Fenster. Es goss bereits in Strömen, und der Donner war nähergekommen, offenbar zog das Gewitter direkt über unsere Köpfe.
Bruder Ambrusius schlug vor, uns seine Bergkristallsammlung im Keller zu besichtigen. Bergkristalle waren neben der Saribari-Pflanze seine grösste Leidenschaft. Er konnte über jeden Stein, der dort lag, eine eigene Geschichte erzählen, so dass wir mehr als eine Stunde dort unten waren, obwohl es gar nicht so viele Steine waren, sie hätten zusammen in nur einen Schrank gepasst.
Als wir wieder auf dem Weg zu seinem Studierzimmer waren, regnete und donnerte es immer noch, und Blitze warfen zwischendurch gespenstische Bilder an die Wand.
"Merkwürdig", sagte der Geistliche, "dass das Gewitter immer noch andauert. Normalerweise ist sowas hier schnell vorbei."
"Warum ist es in Eurem Zimmer so hell?" fragte Kilia ihn.
Der Mönch antwortete nicht, sondern beschleunigte seine Schritte. Als wir im Zimmer standen, sahen wir, dass es sich nicht verändert hatte, sondern das Licht direkt vom Hof kam. Bruder Ambrusius schaute hinaus, wurde bleich und zeigte mit einer Mischung von Entsetzen und Ungläubigkeit nach draussen.
Die Kugel, die mir bei Kilias Eltern begegnet waren, schwebte mitten auf dem Hof und strahlte ihr Licht in alle Ecken und Enden der freien Fläche. Blitze fuhren aus ihr heraus, Funken sprühten durch die Luft, und der Boden sah so aus, als würde er brennen. Als ich sie anstarrte, traf mich einer ihrer Lichtstrahlen, und in diesem Augenblick hörte ich eine weibliche Stimme rufen: "Tata, komm!"
"Sie will, dass ich zu ihr komme", erklärte ich.
Kilia nahm meine Hand. Jetzt konnte sie es auch hören.
"Was will sie von Euch?" fragte der Mönch sichtlich besorgt.
"Ich weiss es nicht", gab ich zu, "ich weiss nur, dass sie mich sucht. Also werde ich jetzt gehen."
Ich wandte mich an Kilia.
"Du brauchst nicht mitzukommen. Die Kugel will mich, nicht dich."
Kilia drückte meine Hand fester.
"Ich lasse Euch nicht im Stich, Tata. Ich komme mit!"
Ehrlich gesagt war ich erleichtert darüber.
"Danke, Kilia. Wir gehen jetzt, Frata."
"Batakinia beschütze Euch, seid vorsichtig", rief er uns hinterher.
Unten im Hof stürmte es bereits so sehr, dass Kilia und ich uns aneinander festhalten mussten. Der Regen hatte zwar abgenommen, war aber immer noch zu spüren. Als wir kurz vor der Kugel standen, trafen mich ein paar ihrer Blitze, erzeugten aber nur ein kleines Kitzeln. Dann plötzlich begann die Kugel zu wachsen, erst langsam, dann immer schneller. Kilia klammerte sich an mir fest, ihre Angst war deutlich zu spüren. Diese Erscheinung musste gewaltiger sein als alles, was sie je erlebt hatte, und das verlangte ihr sehr viel ab. Ich umarmte sie, spürte ihr Zittern vor Aufregung und ihren Atem neben mir. Das war ein Augenblick, den ich nie vergessen werde. Die Kugel wuchs dramatisch, hatte uns schnell eingeholt und schliesslich verschluckt. Bruder Ambrusius sah nur noch eine riesige Kugel, die fast so gross war wie der Hof, Blitze um sich warf und mit ihrer Helligkeit alles andere überstrahlte, und wusste nicht, ob er das ganze Geschehen für einen Traum oder Wirklichkeit halten sollte.

Auf einmal hatte es aufgehört zu stürmen und zu regnen. Stille war eingekehrt. Kilia und ich schauten uns um. Zu allen Seiten war nur noch helles Licht zu sehen. Wir waren jetzt offenbar mitten in der Kugel, und nichts erinnerte daran, dass wir gerade noch dem schlimmsten Gewitter begegnet waren, das man sich denken kann.
"Hallo!" rief eine weibliche Stimme. Es war aber nicht die von Kilia, sondern eine andere. "Habt keine Angst. Ihr seid willkommen."
Ich sah niemanden.
"Wer... bist du?" fragte ich.
"Ich bin Batakinia, aber nicht direkt, nur eine sphärische Präsenz. Schön, dass Kilia auch da ist."
Ich spürte, wie Kilia sich entspannte. Sie löste ihre Umarmung jedoch nicht.
"Warum macht Ihr das alles?" fragte sie.
"Ich musste nochmal wiederkehren, um euch zu prüfen", erklärte Batakinia.
"Wozu prüfen?" wollte ich wissen.
"Ihr erinnert Euch sicher daran, dass Euch gesagt wurde, wenn Ihr wie Batakinia durch Licht und Wind geht, wird sie Euch erreichen. Genau das habt Ihr heute getan. Kilia ist sogar mit Euch gegangen. Ihr habt euch gegenseitig unterstützt und damit bewiesen, dass Freundschaft und Vertrauen auch die grösste Angst überwinden kann."
"Ich glaube, Kilia hat mich wesentlich mehr unterstützt als ich sie", gestand ich.
Batakina antwortete amüsiert:
"Tata, warum wollt Ihr verleugnen, was ohnehin offensichtlich ist? Ihr seid Kilia eine wesentlich grössere Stütze, als Euch bewusst ist. Dabei geht es nicht nur darum, was Ihr für sie tut, sondern wie Ihr es tut. Ihr behandelt sie wie einen Freund. Und deshalb ist sie auch wie ein Freund für Euch. Damit tut ihr genau das, was ich den Menschen während meines Lebens beibringen wollte."
In diesem Augenblick wurde mir bewusst, wie nötig die Begegnung mit Batakinia gewesen war. Sie hatte mir die Augen geöffnet.
"Werdet Ihr uns nochmal prüfen?" fragte Kilia.
"Nein", antwortete Batakinia wieder beruhigend, "ihr habt diese Prüfung bereits bestanden. Darum habt ihr euch eine Belohnung verdient. Ich würde euch gern einen Wunsch erfüllen. Bitte sagt ihn mir."
"Darf ich sprechen?" fragte mich Kilia.
Ich nickte.
"Batakinia, bitte lasst eine Saribari-Pflanze für Bruder Ambrusius wachsen. Er wünscht es sich schon so lange und es ist ihm noch nie gelungen."
"Ein sehr nobler Wunsch, Kilia. Er ist schon erfüllt. Ich werde euch jetzt wieder freigeben. Haltet weiter so zusammen wie bisher. Ihr seid beide wie ein kleines Universum, aus dem noch viele Sterne hervorgehen können."
Die Kugel fing bereits wieder dramatisch zu schrumpfen an.
"Batakinia, wann werden die Saribari-Früchte leuchten?" beeilte ich mich noch zu fragen.
"Wenn ich wiederkomme", hörte ich sie noch rufen. Dann war die Kugel plötzlich verschwunden und wir standen wieder im Hof der Tempelanlage.
Wir schauten uns um. Das Wetter war schlagartig besser geworden, die Wolken verzogen sich bereits und liessen die ersten Sonnenstrahlen durch. Der Wind war kaum mehr zu spüren, das Gras unter unseren Füssen war so grün wie immer und nichts deutete mehr auf  die Naturgewalten hin, sie sich eben noch hier ausgetobt hatten. Ich fragte mich, wieviel davon Realität und wieviel Vision gewesen war. Es musste wohl eine Mischung aus beidem gewesen sein.
"Tata! Kilia", hörte ich jemanden rufen. Bruder Ambrusius kam aufgeregt auf uns zugelaufen. "Wie geht es euch?"
"Uns geht es gut", versicherte ich ihm. "Frata, Ihr habt doch auch diese Kugel und die Blitze gesehen, oder?"
"Ja, sicher", bestätigte der Mönch, "urplötzlich ist sie grösser geworden, hat euch verschluckt, wurde sofort wieder kleiner und gab euch wieder frei. War das Batakinia?"
"Ja, das war sie. Wir haben mit Ihr gesprochen", sagte Kilia.
"Kommt mit, ihr müsst mir alles erzählen!" sagte der Geistliche aufgeregt. Er wollte uns schon ins Studierzimmer führen, da hielt ich ihn fest.
"Halt, Frata. Schaut mal nach Eurer Saribari-Pflanze."
Er schaute mich überrascht an, dann ging er rasch in ihre Richtung. Wir folgten ihm und sahen, wie er sein Papier nahm und hinter den Blumentopf hielt. Verwundert bewegte er es hoch und herunter.
"Seht... sie ist gross", erklärte er voller Erstaunen. "Ich bin gespannt, wie sie heute abend im Mondlicht aussieht."
Natürlich sah man wieder nichts als blasse Schatten, die schnell verschwanden, aber der Bewegung seines Papieres zu beurteilen, musste die Pflanze eine stattliche Grösse erreicht haben. Dann gingen wir in sein Studierzimmer und erzählten, was wir im Inneren der Kugel erlebt hatten. Der Mönch hörte uns aufmerksam zu und machte sich zwischendurch Notizen.
"Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich es für eine Vision halten", bestätigte er uns, als wir alles erzählt hatten.
"Ein Teil davon war sicher eine Vision", entgegnete ich, "mir ist nur nicht klar, wieso wir alle drei sie gesehen haben."
Bruder Ambrusius lächelte plötzlich.
"Ich weiss es, Tata. Weil Batakinia es wollte."
"Aber warum hat sie dann beim Bataki-Fest in Eitakunisch mit ihm geredet?" fragte Kilia.
"Weil sie wollte, dass du es ihm übersetzt", antwortete der Mönch, "sie wollte euch dadurch zeigen, dass ihr euch braucht."
Mir ging langsam ein Licht auf.
"Kilia, wann hat deine Mutter die Saribari-Kügelchen bei deinem Onkel gefunden?"
Kilia überlegte.
"Vor etwa zwei Wochen. Ein oder zwei Tage später seid Ihr hier angekommen."
"Dann war das also auch kein Zufall", erkannte der Mönch, "Batakinia wollte, dass deine Mutter die Kügelchen findet."
"Soweit gut", überlegte ich laut, "aber woher wusste Batakinia, dass Kilia meine Dienerin werden würde?"
Der Mönch lächelte wieder geheimnisvoll.
"Erinnert Euch daran, Tata: Batakinia besitzt als einzige von uns die Grosse Weisheit. Wir  Mönche und die Nonnen strengen uns tagtäglich an, wenigstens ein klein wenig weiser zu werden, aber wir werden niemals an Batakinia herankommen. Sie weiss viele Dinge, von denen wir nichts wissen, und ahnt andere voraus, die wir uns nicht vorstellen können. Vertraut ihr. Alles, was sie uns bisher gesagt hat, ist entweder eingetroffen, oder hat unserem Frieden und der Gemeinsamkeit geholfen. Ihr müsst ihrem Rat nicht folgen. Aber wenn ihr es tut, wird es sich auf jeden Fall lohnen."
Er schaute zum Fenster hinaus. Die Sonne ging langsam unter und tauchte die hohen Wolken, die am Horizont entlangzogen und wie ein grosser, langer Schweif aussahen, in ein Farbenmeer aus Goldgelb, Kaminrot, Magenta, Schiefergrau, Sattelbraun und Violett.
"Was für ein schöner Sonnenuntergang", sagte er. "Wollt ihr ihn euch nicht näher ansehen? Der Schumutt-Turm ist gerade mal 10 Minuten von hier entfernt."
"Gute Idee, Frata", sagte Kilia. "Komm mit, Tata. Von da oben hat man eine total gute Aussicht!"

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