Der Teezauber
Als ich Kilia am nächsten Tag besuchte, schien es ihr schon wieder etwas besser zu gehen. Als sie mich sah, begrüsste sie mich sofort mit einem Lächeln: "Hallo Tata! Schön, dass Ihr kommt!" "Ein Mann, ein Wort" antwortete ich grinsend, "wie geht es dir heute?" "Viel besser. Vielleicht kann ich schon morgen wieder aufstehen." "Mach langsam. Kuriere dich lieber gründlich aus, nicht dass du etwas verschleppst. Darf ich mich wieder auf die Bettkante setzen?" "Gerne, Tata." Ich setzte mich. Sie holte etwas unter ihrem Kissen hervor und zeigte es mir. "Hier, Tata, das habe ich für Euch gemalt!" Sie übergab mir ein Blatt mit einer Zeichnung. Diese stellte Wellen dar, die sich von oben und unten aufeinander zubewegten. In der Mitte trafen sie sich und nahmen dabei helle Farben an, als ob sie flimmerten. In den Ecken hatte Kilia die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft gemalt, mit vielen filigranen Strichen und Linien. "Hat es so ausgesehen, als sich das Wasser bewegt hat?" fragte sie. "So ähnlich schon", gab ich zu und lächelte, "aber so, wie du es gemalt hast, ist es viel schöner. Das Bild ist klasse, Kilia! Darf ich es behalten?" "Natürlich, Tata", bestätigte sie. "Vielen Dank, Kilia. Das ist wirklich nett von dir." "Ich habe noch etwas für Euch, Tata." Wieder kramte sie etwas hinter ihrem Kissen hervor. Diesmal war es ein kleiner Beutel, den sie mir überreichte. "Meine Mutter hat Euch eine Kräutermischung zusammengestellt. Ihr könnt sie wie Tee trinken." Sie beschrieb mir, wie ich einen Tee daraus zubereiten konnte. Es schien sehr einfach zu sein. Ich musste mir eingestehen, dass ich gerührt war. Mir hatte noch keine Dienerin zuvor etwas geschenkt. Das musste ich ihr sagen. "Kilia, du bist die erste Dienerin, die mir jemals solche schönen Sachen geschenkt hat. Ich mag selbstgemachte Sachen immer sehr. Herzlichen Dank!" Kilia lächelte froh. Dann fragte sie: "Habt Ihr jetzt eine andere Dienerin?" "Ja, Bilia. Kennst du sie?" Kilia nickte. "Wir wohnen im selben Wohnheim. Sie ist ein Jahr jünger als ich." "Ist sie irgendwie mit dir verwandt?" Kilia schüttelte den Kopf. Dabei fielen ihr ihre Haare ins Gesicht. Sie strich sie beiseite. "Verzeiht, meine Haare sehen nicht gut aus. Ich konnte sie noch nicht waschen." "Dafür brauchst dich nicht zu schämen", erklärte ich ihr, "meine Haare hätten es auch mal wieder nötig, unter's Wasserrad zu kommen." Kilia schmunzelte. Dann fragte sie: "Seid Ihr denn zufrieden mit Bilia?" "Ja, aber sie kann dich nicht ersetzen. Deshalb freue ich mich darauf, wenn du wieder auf den Beinen bist." "Warum nicht?" Ich überlegte kurz, wie ich es ihr erklären sollte. "Ich glaube, ich kann dir einfach tiefer vertrauen", gestand ich. Das stimmte nicht ganz, denn eigentlich konnte ich Kilia blind vertrauen. Aber ich war mir nicht sicher, ob sie das als übertrieben deuten könnte. Kilias Miene wurde heller. "Vielen Dank, Tata. Das ist lieb von Euch." Wir unterhielten uns noch eine ganze Zeit lang, wobei ich immer mehr den Eindruck gewann, dass ich mit Kilia über alles reden konnte. Wir kamen sogar auf mein Leben in einer hochtechnisierten Umwelt zu sprechen, und obwohl von vielen Dingen nichts verstand, hörte sie mir interessiert zu und erklärte auch, warum die Eitaku einige davon strikt ablehnen würden, weil sie mit ihrer Religion oder den Sitten und Gebräuchen unvereinbar waren. Plötzlich klopfte es an und ihr Vater kam herein. Ich stand auf, begrüsste ihn und verbeugte mich, wie es die jüngeren Familienmitglieder für gewöhnlich den Älteren gegenüber taten. Er verbeugte sich ebenfalls, dann fragte er Kilia etwas, was ich nicht verstand. Sie lachte. "Mein Vater will wissen, ob Ihr mich heiraten wollt", sagte sie. "Was?" fragte ich überrascht. Kilia kicherte. "Als Ihr gestern gegangen seid, habt Ihr ihm gesagt, er hätte eine schöne Hand da. Und er dachte, Ihr würdet um meine Hand anhalten wollen." Ich war verwirrt, dann verstand ich. "Nein, ich wollte ihm sagen, dass er ein schönes Haus hat." Ich hatte "Haus" und "Hand" verwechselt und musste nun darüber lachen. Kilia übersetzte den Satz ihrem Vater, der nun ebenfalls in Gelächter ausbrach und mir dann etwas zurief. "Er sagt, Ihr sollt mehr auf Eure Worte achten, sie könnten schneller wahr werden, als Ihr denkt", übersetzte Kilia. "Verspreche ich ihm", antwortete ich. Ihr Vater war zufrieden und ging wieder. Ich hielt es nun für angemessen, mich ebenfalls zu verabschieden. "Also dann, Kilia, ich mache mich wieder auf die Socken und werde morgen wieder vorbeikommen." "Alles klar, Tata. Vergesst nicht, die Kräutermischung auszuprobieren. Sie ist wirklich gut!" "Mache ich. Bis dann!"
Als ich wieder in meinem Zimmer war, brannte ich darauf, die Kräutermischung so zuzubereiten, wie Kilia es mir erklärt hatte. Ich bat Bilia, mir eine Kanne heisses Wasser zu besorgen, einen Teebeutel, einen Becher, Löffel und eine kleine Kanne Milch. Nachdem sie mir alles gebracht hatte, sagte ich ihr, ich müsse etwas lesen und sie könnte mich die nächste Stunde lang allein lassen. Sie folgte widerspruchslos. Ich griff in den Beutel und nahm eine kleine Menge von der Kräutermischung heraus. Sie sah anders aus als alles, was ich kannte, denn darin befanden sich neben allerlei Blüten und Blättern auch kleine Kügelchen in allen möglichen Farben, und ich fragte mich, wie wohl die zugehörige Pflanze dazu aussehen würde. Dann füllte ich den Teebeutel mit der Mischung, tauchte ihn in das heisse Wasser und wartete ab. Kilia hatte gesagt, dass man warten musste, bis das Wasser eine blasse grünblaue Farbe angenommen hatte. Weil ich ungeduldig war, lenkte ich mich mit einem Spiel ab, das in meinem Kommunikator eingebaut war. Nach etwa 20 Minuten war es dann soweit, ich goss mir das grünblaue Wasser in den Becher und danach gleich noch etwas Milch hinzu. Die Milch war nicht unbedingt notwendig, aber für mich war das eine Verfeinerung des Geschmacks.
Ich hatte den Becher direkt vor mich auf den Tisch gestellt und schaute hinein. Während mir der Dampf in die Nase zog, verteilte sich die Milch darin wie Wolken im Himmel. Ungestüm drängte sie nach allen Seiten, durchflutete das Teewasser um sich herum und spielte mit den Strömungen. Ich hatte plötzlich den Eindruck, es mit einer Winterlandschaft zu tun zu haben, mit einer dicken Schneedecke unter mir, Bergen und Bäumen um mich herum und einem blassen, grünblauen Himmel über mir. Der Tag war wunderschön, die Sonne schien und einige Eiszapfen an den Bäumen glitzerten in ihrem Licht. Ich schaute mich um und hoffte, eine zweite Person zu entdecken, mit der ich diese Landschaft um mich herum geniessen konnte. Aber da war niemand. Wenn es hier allerdings noch jemanden geben sollte, dann wollte ich ihn finden, und mit diesem Vorsatz marschierte ich los. Der Weg nahm ein paar Kurven und führte mich schliesslich an einem kleinen See vorbei. Plötzlich hörte ich sowas wie ein Plätschern. Es war aber kein Bach, sondern ein Tier, das an einer freien Stelle des Sees im Wasser spielte. Als ich näherkam, erkannte ich ein Rabutabu, das aber nicht spielte, sondern offenbar im Eis eingebrochen war und nun versuchte, wieder herauszukommen. Kurzentschlossen half ich dem kleinen Kerlchen, und als ich es hochgezogen und auf die Beine gebracht hatten, sagte es: "Vielen Dank, Mensch. Du hast mich gerettet. Wenn du mal in Not bist, rufe mich, und du wirst gerettet werden." Es schüttelte sich, lief dann in kurzen Sätzen davon und war plötzlich verschwunden. Ich war überrascht. Rabutabus konnten eigentlich nicht sprechen, aber auf Uu Eitaku konnte man sich da nie sicher sein. Ich marschierte weiter auf der Suche nach einer Menschenseele. Das Wetter veränderte sich, mehr und mehr Wolken zogen auf, bis sich der Himmel zugezogen hatte. Dann fing es an zu schneien, zuerst wenig, dann immer mehr. Der Wind war stärker geworden und heulte um mich herum, und durch den herumwirbelnden Schnee konnte ich die Landschaft vor mir gar nicht mehr richtig erkennen. Zudem hatte ich den Eindruck, dass der Weg immer steiler und beschwerlicher wurde. Es hatte jetzt keinen Zweck mehr, weiterzugehen. Ich schaute mich nach einem Unterschlupf um und sah eine schneefreie Stelle unter einem Baum, deren Äste den Schnee weitestgehend abgehalten hatten. Dahin flüchtete ich mich und blieb dort sitzen. Es war jetzt richtig dunkel geworden, vor mir türmte sich der Schnee auf und mir wurde merklich kalt. Ich wollte die Hoffnung schon aufgeben, hier wieder herauszukommen, da fiel mir ein, was das Rabutabu zu mir gesagt hatte. Also rief ich es mehrmals um Hilfe, so laut ich konnte, und wartete schliesslich ab. Nichts passierte. Ich hätte es eigentlich wissen müssen, dachte ich bei mir, denn in diesem Schneesturm konnte es mich einfach nicht finden, und selbst wenn, war immer noch fraglich, ob es mir überhaupt helfen konnte. Plötzlich tippte mir jemand auf meine Schulter. Ich schaute mich um. Jemand bot mir seine Hand an. Ich konnte nicht sehen, wer es war, nur dass mir diese Hand irgendwie bekannt vorkam. Also nahm ich sie. Ich konnte noch feststellen, dass sie sehr warm und weich war, dann löste sich die Landschaft um mich herum plötzlich auf, und ich sah meinen Tisch und den Becher mit dem Tee wieder direkt vor mir, wobei mir der Becher viel grösster vorkam. "Tata?" hörte ich eine Stimme fragen. Ich richtete mich auf. "Was... was ist denn passiert?" fragte ich verwirrt. "Als ich hereinkam, lagt Ihr mit Eurem Kopf auf dem Tisch", erklärte Bilia. "Eure Augen waren geschlossen und ich wusste nicht, ob es Euch gut geht. Deshalb habe ich Euch auf die Schulter getippt." "Bilia, gib mir mal deine Hand", bat ich sie. "Welche, Tata?" fragte sie verwundert. "Die rechte." Sie gab sie mir. Ich schaute sie mir an. Sie hatte auch eine schöne Hand, aber es war nicht die, welche ich eben noch gesehen hatte. "Danke", sagte ich und gab sie ihr zurück, "ist schon in Ordnung." Bilia war sichtlich verwundert. "Ihr habt Euren Tee noch nicht getrunken", stellte sie fest, "soll ich Euch nochmal einen einschenken?" "Wie?" fragte ich und stellte fest, dass sie recht hatte. Der Tee war mittlerweile kalt. "Ah ja, schenke mir bitte nochmal einen ein." Sie reichte mir den Tee, ich rührte darin herum, verzichtete auf die Milch und trank schliesslich einen kleinen Schluck davon. Der Geschmack ist schwer zu beschreiben, es war eine Mischung zwischen süsssauer und einem herben, aber angenehmen Nachgeschmack. Mir kam eine Idee. "Bilia, kennst du diese kleinen Kügelchen hier", fragte ich sie und zeigte ihr die Kräutermischung, in der sie sich befanden. Sie schüttelte den Kopf. "Nein, aber ich kann Euch sagen, wer das wissen könnte."
Bruder Ambrusius sah sich die Kräutermischung genau an, nahm dann ein Kügelchen heraus, betrachtete es von allen Seiten und sagte: "Aha, die Frucht der Saribari-Pflanze." Bilia hatte mir den Mönch empfohlen, daraufhin waren wir gleich zum Tempel gegangen und hatten um eine Audienz gebeten. Bruder Ambrusius war überrascht, mich schon wieder zu sehen, schien darüber darüber aber sehr erfreut zu sein. "Was ist das für eine Pflanze, Frata?" wollte ich wissen. "Das, Batu, ist eine der geheimnisvollsten Heilpflanzen auf Uu Eitaku", erklärte er. "Folgt mir!" Wir gingen durch einen längeren Gang, bogen ein paarmal um die Ecke und traten schliesslich in einen hohen Raum ein, der von oben bis unten mit Bücherregalen gefüllt war. Der Mönch nahm eine Leiter, die an einer Seite stand, legte sie an und kletterte hinauf. Eine Weile schien er zu suchen, dann hatte er es wohl gefunden und kam mit einem alten Buch wieder herunter. "Dieses Buch ist so alt, dass es sogar noch in Alteitakunisch verfasst wurde. Ich bin einer der wenigen, der diese Schrift noch lesen kann", erklärte er. Er legte das Buch auf einen Tisch, blätterte eine Weile vorsichtig darin herum und sagte dann: "Also, hier steht es: Die Saribari-Pflanze gehört zu den Nachtschattengewächsen und wächst nur an Stellen, die tagsüber schattig sind und nachts vom Mondlicht erreicht werden. Sie wird sehr alt, trägt aber nur alle 20 Jahre Früchte in Form von verschiedenfarbigen Kügelchen, die sich für die Teezubereitung eignen und denen unbekannte Heilkräfte nachgesagt werden. Man sollte jedoch beim Trinken darauf achten, dass man keine Dämpfe einatmet, da diese sonst Müdigkeit verursachen. Alle Versuche, diese Pflanze zu züchten, schlugen bisher fehl. Ebenso schwierig ist es, sie aufzufinden, weil sie tagsüber fast unsichtbar ist und nur nachts bei Vollmond für wenige Stunden sichtbar bleibt. Die Früchte sollte man jedoch alsbald als Tee trinken, da sie bereits nach wenigen Wochen verfallen und ihre Heilwirkung verlieren. Angeblich kann die Einnahme dieser Früchte sogar eine Erleuchtung bewirken, dazu müssen sie aber vorher leuchten. Bisher ist nur ein Fall bekannt, der auf diese Weise zur Erleuchtung führte." Der Mönch schaute mich an. "Darf ich fragen, woher Ihr diese Kräutermischung habt?" "Von Kilia", antwortete ich, "sie sagte, ihre Mutter hätte sie extra für mich gesammelt." "Aha", sagte Bruder Ambrusius und strich sich über seinen Stoppelbart, "ich kenne Kilias Mutter. Eine sehr erfahrene Frau, was Kräuterkunde angeht. Sie hat schon öfter seltene Kräuter für uns gesammelt. Ihr müsst ihr viel bedeuten, denn normalerweise werden Saribari-Früchte nicht an Fremde abgegeben." "Tja, vielleicht bin ich ihr ja gar nicht mehr so fremd", äusserte ich. Bruder Ambrusius nahm das Kügelchen zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte es von allen Seiten. "Batu, würdet Ihr mir dieses eine Exemplar überlassen?", fragte er mich schliesslich. "Es würde mich reizen, es zum Leben zu erwecken." "Sicher", gab ich zurück. "Ich bringe nur eben das Buch zurück, dann führe ich Euch zum Ausgang".
Mir war klar geworden, dass die Dämpfe der Kräutermischung dazu geführt hatten, dass ich mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen war. Aber selbst, wenn ich nur davon geträumt hatte, in der winterlichen Landschaft herumzuirren, was hatte dann dieses sprechende Rabutabu zu bedeuten? Und noch wichtiger: Von wem stammte die Hand, die mich offensichtlich retten wollte?
Den Rest des Tages tat ich das, was der Kurplan vorschlug: Wanderung durch die Salzberghöhle und anschliessendes Moorbaden im Kurhaus. Weil hier wieder Männer von Frauen getrennt wurden, konnte Bilia nicht mitkommen. Allerdings war man nie allein unterwegs, denn ebenso wie man in einer Gruppe die Salzberghöhle durchlief, badete man zusammen mit 5 anderen Gäste in einem grossen Moorschlamm-Becken. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, wieder von einer Vision heimgesucht zu werden, aber sie blieb diesmal aus. Nach dem Abendessen verabschiedete ich mich von Bilia, wie jeden Tag. Als die Sonne unterging, beschloss ich, noch einen kleinen Spaziergang durch die Stadt zu machen und nahm dabei einen Weg, der mich direkt zu einem Hügel führen würde, der einen guten Ausblick über die Stadt ermöglichte. Dabei wünschte ich mir heimlich, Kilia wäre da, denn gern hätte ich den Sonnenuntergang mit ihr zusammen genossen.
Während ich noch darüber nachdachte, erschien es mir plötzlich so, als würde der Weg vor mir gar nicht mehr zum Hügel führen, sondern direkt in die untergehende Sonne hinein. Das war natürlich Einbildung, dachte ich jedenfalls und ging weiter. Aber als ich mich nach einer Weile umschaute, schien der Weg, den ich zurückgelegt hatte, schon kilometerlang zu sein, während er auf der anderen Seite immer noch in die Sonne zeigte, deren Licht schon abgenomen hatte. Dann verspürte ich etwas warmes in der rechten Jackentasche. Ich holte die Kügelchen der Saribari-Pflanze heraus, die ich von der Kräutermischung behalten hatte. Plötzlich schienen sie vom Wind weggetragen zu werden und wirbelten in der Luft herum. Der Mond schicke sich bereits an, aufzusteigen, und als sein Licht auf die vom Wind getragenen Saribari-Kügelchen fiel, fingen diese an zu leuchten!
Wenn dies eine Vision war, dachte ich bei mir, dann war es die erste, die mir wirklich gefiel. Die Sonne war jetzt untergegangen. Die tanzenden Kügelchen, der warme Wind, das Mondlicht, all das fügte sich zu einem romantischen Bild zusammen. Am bliebsten hätte ich es fotografiert, aber meine Kamera lag noch im Kurhaus.
Plötzlich erschien zunächst fast unsichtbar, dann schemenhaft eine Gestalt am Himmel, die mindestens dreimal so gross war wie ich und durch die man noch die Sterne sehen konne, und eine zweite, ebenfalls so gross. Obwohl ich es nicht genau erkennen konnte, schienen diese Gestalten weiblich zu sein. Einige Kügelchen flogen nun zu der einen Gestalt und leuchteten noch stärker, eins flog zur anderen, aber plötzlich verlosch sein Licht. Ich begriff: Irgendwas stimmte nicht mit einer der beiden Gestalten. Und in diesem Moment verschwand die Stadt, der Mond, die Sterne und der Weg, auf dem ich stand. Ich fiel vornüber auf die beiden Gestalten zu, dann zwischen ihnen hindurch, und immer weiter in das schwarze Nichts hinein, wurde dabei immer schneller, ruderte mit den Armen und versuchte mich irgendwo festzuhalten, aber es gab nichts, was ich hätte greifen können. Einmal mehr rief ich Kilias Namen, obwohl ich wusste, dass es aussichtslos war, denn sie war ja bei ihren Eltern und konnte mich nicht retten und Bilia war auch längst im Wohnheim. Während mich diese Vision heimsuchte, lag ich bestimmt irgendwo in einer Gasse der Stadt und würde langsam aber sicher erfrieren. Diesmal würde keine Dienerin in der Lage sein, mich zu retten. Ich wusste nur noch, dass ich verloren war. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, trotzdem rief ich weiter nach Kilia, während ich weiter in das kalte Dunkel fiel und mich sicher bald auflösen würde...
"Tata?" fragte Bilia. Ich zwinkerte mit den Augen. "Ja... was ist?" fragte ich verwirrt. "Ihr habt eben Kilia gerufen." Wir sassen immer noch im Speisesaal und waren dabei, unser Abendbrot zu essen. Diesmal hatte mich die Vision aber wirklich gut getäuscht. Die Verabschiedung von Bilia hatte so echt gewirkt, dass mir nicht im Traum eingefallen wäre, hier könnte etwas nicht stimmen. Ich hatte mich schon darauf verlassen, dass es mit den Versionen jetzt vorbei sein könnte. Aber da hatte ich mich getäuscht. "Oh", sagte ich etwas verwirrt, "das war ein Versehen. Ich war eben nicht ganz bei mir." Eigentlich hatte ich gehofft, Bilia würde mir das abnehmen. Aber ihre Miene bleib unverändert. Ich hoffte, sie würde es mir nicht übelnehmen, dass ich Kilia und nicht sie gerufen hatte. "Ihr habt euer Brot noch nicht gegessen." Sie war offensichtlich schon fertig. "Ich beeile mich", gab ich zu verstehen. Der Abschied von Bilia war ziemlich kurz. Das war mir aber auch recht so. Ich beschloss, vor dem Schlafengehen lieber noch etwas Milch statt einen Tee zu trinken, denn mein Bedarf an Visionen war für heute gedeckt.
|
|