Wegdasein
Normalerweise kamen mir die Wochenenden immer viel zu kurz vor, aber dieses erwies sich eindeutig als zu lang. Noch gleich am Freitag besorgte ich das, was ich ihr ausgeben wollte, und freute mich von da an die ganze Zeit auf den Montag, an dem ich sie wiedertreffen würde. Sie war an diesem Tag auch viel fröhlicher aus dem Auto gestiegen und hatte mir nochmal zugewunken, bevor sie über die Straße ging, und genau an dieses Bild tauchte immer wieder vor meinen Augen auf, sobald ich bei irgendeiner Sache eine Pause machte und nachdenken wollte. Allerdings kam mir dabei auch die Frage in den Sinn: Was sollte ich tun, wenn sie das, was ich ihr ausgeben wollte, gar nicht mochte? Dafür mußte ich mir noch was einfallen lassen. Trotzdem versetzte mich allein der Gedanke daran in Aufregung und ich konnte nur hoffen, daß es klappen würde. Als ich also die kleine Aufmerksamkeit am Montag vor der ersten großen Pause aus meiner Tasche nahm, fragte mich mein Tischnachbar verwundert: »Wozu hast du denn die Mohrenköpfe gekauft? Du hast doch heute gar nicht Geburtstag!« »Ich wollte meiner neuen Mitschülerin mal einen ausgeben«, erklärte ich wahrheitsgemäß, »zum Dank, daß sie mir mit dem Punkt bei der einen Arbeit geholfen hat und so«. Das hätte ich besser nicht tun sollen, denn nun schlug die Laune meines Tischnachbarn total um und seine unbändige Wut bahnte sich ihren Weg: »Ganz toll. Wirklich klasse! Wenn ich dir mal geholfen habe, hast du dich nie bedankt! Aber wenn sie das tut, dann gibst du ihr gleich was aus. Warum schenkst du ihr nicht gleich noch ein Haus und deinen Wagen obendrein? Das würde sich wenigstens richtig lohnen!« Obwohl es mir nicht leicht fiel, blieb ich ruhig. »Ist ja schon gut. Also, ich bezahle nachher deine Currywurst, ist das in Ordnung?« Mein Tischnachbar, der eben zu seiner Hochform auflaufen wollte, wurde still, überlegte kurz und sagte dann: »Na gut. Ist ja wohl auch das mindeste.« Froh darüber, diese Bombe entschärft zu haben, ging ich los und suchte sie, der ich jetzt die Mini-Mohrenköpfe ausgeben wollte. Aber so sehr ich auch nach ihr suchte, die Treppen herauf- und herunterlief, die Gänge durchstreifte und schließlich auch außerhalb des Schulgeländes nach ihr Ausschau hielt, ich konnte sie nicht finden. »Na, was ist?« fragte mein Tischbachbar, als ich wieder in der Pausenhalle war. »Komisch«, sagte ich, »sie ist doch heute morgen mitgekommen. Wieso ist sie dann nirgendwo zu sehen?« »Hab’ ich mir schon gedacht«, meinte mein Tischnachbar, »wenn’s drauf ankommt, läßt sie dich im Regen stehen. Typisch Weiber. Komm, ich will mir jetzt ‘ne Currywurst holen.« Ich folgte ihm und bezahlte seine Currywurst, war aber verwirrter denn je. Irgendwas mußte passiert sein, etwas Unerwartetes, denn sie hatte bisher jede Pause hier in der Pausenhalle verbracht. Sicherheitshalber hatte ich auch im Klassenraum nachgesehen, in dem sie bis eben noch Unterricht gehabt hatte: Er war leer. »Da stimmt was nicht«, sagte ich zu meinem Tischnachbarn, »sie kann doch nicht einfach so vom Erdboden verschluckt worden sein.« »Mach’ dich doch nicht so verrückt«, antwortete er, »vielleicht mußte sie dringend was besorgen und ist sie in die Stadt gegangen. Wahrscheinlich hat sie sowieso schon vergessen, daß du ihr einen ausgeben wolltest.« Ich schüttelte den Kopf, aber er hatte recht, sie konnte tatsächlich in die Stadt gegangen sein, obwohl es das erste Mal gewesen wäre, denn sie kannte sich im Stadtgebiet noch nicht so gut aus. Nun, die folgende Doppelstunde hatten wir wieder gemeinsam Unterricht, dann würde ich sie ja zwangsläufig wiedersehen. Doch da irrte ich mich. Der Unterricht fing an, aber ihr Platz blieb leer. Ich schaute meinen Tischnachbarn an, aber der zuckte nur mit den Schultern und sagte dann im Flüsterton: »Frag’ doch nach der Stunde irgendeine der anderen Tussen hier.« »Gute Idee, mach’ ich«, flüsterte ich zurück. Ungeduldig wartete ich auf das Klingelsignal, und als es endlich kam, stand ich gleich auf und ging zu der Klassenkameradin am Nebentisch, die gerade dabei war, ihre Sachen in die Tasche zu packen. Als ich sie fragte, wußte sie zuerst nicht, wen ich meinte, und als ich es ihr nochmal erklärt hatte, sagte sie schließlich: »Ach die, die hat sich vorhin gemeldet und hat dem Lehrer gesagt, ihr wäre schlecht und ob sie nach Hause dürfte. Daraufhin hat sie der Lehrer zum Hausmeister gebracht und ein Taxi gerufen. Die sah auch kreideweiß aus im Gesicht.« »Du vermißt sie wohl?« fragte ihre Tischnachbarin. »Wie kommst du darauf?« entgegnete ich. »Na jeder weiß doch, daß ihr was miteinander habt. Das sieht man ja auf zehn Meter. Frag’ mich bloß, was du an ihr findest, bei diesem häßlichen Blick.« In mir kam Wut auf. Mir war völlig egal, ob ich mir jetzt was bei den Mädchen verscherzte oder nicht, aber ich hatte die Nase voll von dieser Boshaftigkeit. »Wir haben nichts miteinander, aber ihr Blick ist eine Wohltat, wenn ich deinen häßlichen Charakter sehe. Und überhaupt seid ihr offenbar nicht fähig, euch mal ganz normal mit einem Menschen zu befassen, wenn er mal ein bisschen anders ist als ihr selbst. Stattdessen seid ihr arrogant bis an die Oberkante und glaubt, ihr seid was Besseres, und wenn ich sowas sehe, wird mir auch schlecht«, fauchte ich sie an. Mein Tischnachbar, der neben mir stand, staunte Bauklötzer, denn solche tempramentvollen Ausbrüche kannte er höchstens bei sich, aber nicht bei mir. Ich hatte nichts mehr zu sagen und machte mich auf den Weg in die Pausenhalle. »Kannst mich mal«, hörte ich die eine Mitschülerin noch sagen, aber da war ich schon so gut wie aus der Tür. »Heute hast du’s der Tusse aber gezeigt« freute sich mein Tischnachbar. »Ist doch wahr«, sagte ich, »Lästern und Paffen ist das einzige, was die können. Bestimmt sind ihre Hirne schon so schwarz wie ihre Lunge, falls sie überhaupt welche haben.« »Aber mal im Ernst: Hast du was mit ihr?« Ich stöhnte. »Fängst du auch noch damit an! Wir können uns ganz gut miteinander unterhalten, mehr nicht. Deshalb muß man doch nicht gleich verheiratet sein.« »Schon gut, war ja nur eine Frage.« Plötzlich überfiel mich Niedergeschlagenheit. Nicht nur, daß ich mich so darauf gefreut hatte, ihr etwas ausgeben zu können und es nun nicht tun konnte, mir gingen außerdem tausend Fragen den Kopf: Was hatte sie denn plötzlich? War sie gut nach Hause gekommen? War das jetzt vorübergehend, oder würde sie länger krank sein? Konnte ich vielleicht irgendwas für sie tun? Zerknirscht stellte ich fest, daß ich weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer hatte, ich wußte nicht einmal ihren Nachnamen, wenn mir überhaupt etwas von ihr bekannt war, dann ihr Vorname und der Wohnort, wie sie aussah und wie sie lächelte, aber damit würde ich nicht weit kommen. Anrufen oder eine Karte schicken konnte ich also gleich vergessen. Ich war also dazu verdammt bis morgen zu warten, und wenn sie dann nicht da war, dann bis übermorgen und vielleicht noch viel länger. Dann würde ich ihr Lächeln nicht mehr sehen, ihre Stimme nicht mehr hören und niemand würde mehr in der Pausenhalle auf mich warten. Es war schon eigenartig, ich wußte, daß sie nicht mehr in der Schule war, aber vor meinem inneren Auge tauchten gerade jetzt die Bilder von ihr auf, die magischen Momente, die ich mit ihr erlebt hatte. Sie war also weg, aber trotzdem noch irgendwie da für mich - und das war die siebte Seite der sieben Seiten der Seltsamkeiten: Wegdasein. Mein Tischnachbar versuchte mich aufzumuntern. Er spendierte mir ein Baguette vom Kiosk, fast schon das Teuerste, was der anzubieten hatte, und redete mir gut zu, aber auch das konnte meinen Trübsinn nicht beseitigen. Und als wir in den Wagen gestiegen waren und die Schülerin fragte, wo denn unsere neue Mitfahrerin war, da wurde mein Trübsinn noch größer. Selbst mein anderer Kumpel wunderte sich, was mit mir los war, und ich antwortete ihm, ich hätte einen schlechten Tag gehabt. Zum Glück fragte er nicht weiter nach. Zu Hause wollte ich dann die Schularbeiten erledigen, aber ich hatte gar keine Lust, und darauf konzentrieren konnte ich mich auch nicht. So verbummelte ich die Stunden des Nachmittags mit einem großen Spaziergang. Ich brauchte einfach Bewegung zum Nachdenken, und schließlich stand ich auf dem großen Aussichtsplatz, an dem man einen sehr guten Überblick über den ganzen Ort hatte. Ich seufzte und ließ die Hände in die Hosentaschen wandern. Moment, was hatte sich denn da so angesammelt? Ich schaute nach. Da war eine alte Kinokarte, ein Einkaufszettel und... der Zettel mit dem Lösungsrätsel. Er war schon reichlich zerknittert, genau wie ich mich jetzt fühlte, aber man konnte ihn noch gut lesen, und nach langer Zeit schaute ich mir wieder die Zahlen an. Plötzlich machte es »Klick« und mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Das war also die Lösung! Ich konnte es nicht fassen, daß ich so dämlich gewesen und nicht früher darauf gekommen war: Wenn man sich die Punkte wegdachte, ergab sich eine TELEFONNUMMER. Die ganze Zeit hatten mich diese verdammten Punkte zum Narren gehalten, die mich immer wieder auf die Fährte nach einem Datum brachten. Aber nein, es war viel einfacher gewesen! Ich grinste, mehr über meine Schusseligkeit als darüber, die Lösung gefunden zu haben. Gleichzeitig fing mein Herz an zu klopfen. Ich hatte jetzt ihre Telefonnummer und beschloß, keine Zeit mehr zu verlieren Im Sauseschritt ging ich nach Hause zurück, überlegte mir einen Text für den Anruf schnappte mir den Telefonhörer. Trotzdem war ich aufgeregt und meine Hände zitterten, als ich die Nummer wählte. Was wäre, wenn ich mich geirrt hätte und die Zahl war doch keine Telefonnummer? Oder noch schlimmer, ich rief an und niemand würde abnehmen? Gespannt laschte ich in den Hörer und hörte nach einer Weile ein Klacken. »Hallo«, sagte eine Stimme, aber es war nicht die, die ich erwartet hätte. Am anderen Ende mußte eine ältere Dame sprechen, jedenfalls klang es genauso. Meine Hoffnung begann, sich in Luft aufzulösen. Aber noch wollte ich nicht aufgeben. Ich nannte also meinen Namen und fragte, ob ich die erkrankte Mitschülerin sprechen konnte. »Wieso denn?« wurde ich gefragt. »Ich muß ihr noch die M...« Beinahe hätte ich »Mohrenköpfe« gesagt, aber dann hätte die alte Dame sicher gedacht, ich wollte sie auf den Arm nehmen. Also sprach ich nach kurzer Pause weiter: »... die Mappen geben, von der Schule. Ich bin einer ihrer Schulkameraden.« »Moment.« Ich hörte, wie sie irgendwas rief und eine wesentlich leisere Stimme antwortete. »Wann wollen Sie die Mappen vorbeibringen?« fragte die alte Dame. »Wenn’s geht, gleich jetzt. Ich kann mit meinem Auto vorbeikommen.« Wieder hörte ich sie etwas rufen. Diesmal dauerte es ein bißchen länger, bis die leisere Stimme antwortete. »Ja, das geht. Aber kommen Sie gleich.« »Mache ich. In welcher Straße sind Sie denn?« Sie beschrieb mir kurz, wo ich langfahren mußte. Ich bedankte mich und legte auf. Wenig später befand ich mich mit der Schultasche und dem Mohrenkopfkarton im Auto und war nach kurzer Suche am Ziel angekommen. Das Haus stand etwas abseits von den anderen Häusern dieser Stadt, und bis zur Kreuzung, von der ich sie jeden Morgen abholte, brauchte man mindestens eine halbe Stunde zu Fuß. Bisher dachte ich, es schwer zu haben, daß ich so früh aufstehen mußte, aber sie mußte demnach noch viel früher aus dem Bett, um pünktlich bereitzustehen. Ich stieg aus. Dieses Haus vor mir schien schon etwas älter zu sein, es war relativ klein, machte aber einen guterhaltenen Eindruck. Schließlich war ich die Stufen hinaufgegangen und klingelte. Eine Weile passierte gar nichts. Dann öffnete sich die Tür, und ich sah tatsächlich eine hagere, ältere Dame vor mir. Ich stelle mich nochmal vor. »Folgen Sie mir«, sagte die Alte, als ich eingetreten war. Es ging durch einen dunklen Flur bis vor eine Tür, an der allerlei bunte kleine Schilder hingen. Die alte Dame klopfe. »Herein!« hörte ich eine bekannte Stimme sagen. Die Tür ging langsam auf, wie die Tür von einem Schloß, und von Musik begleitet sah ich eine weibliche Gestalt, hinter der es hell war, aber die Schatten vom Flur fielen auf ihr Gesicht. »Denk dran, geh gleich wieder ins Bett! Und macht nicht zu lange!« mahnte die alte Dame. »Ja, Oma!« antwortete sie. Dann trat sie noch einen Schritt nach vorn, und ich konnte ihr Gesicht sehen, das mich wieder mit diesem wunderbaren Lächeln begrüßte. »Hallo, komm ‘rein«, sagte sie. »Vielen Dank!« Ich sah mich um. Das Zimmer war relativ klein, aber gemütlich und wurde in der Mitte von ein paar Holzpfeilern getrennt, an denen sie eine Pinnwand, ein paar Bilder und noch ein paar andere Dinge aufgehängt hatte. Rundherum waren die Wände mit allerlei Postern geschmückt. In der einen Ecke stand ein altertümlicher Schrank, daneben eine Kommode und gegenüber ein kleiner Schreibtisch. In der anderen Ecke, gegenüber den Holzpfeilern, befand sich ihr Bett und ihr Kassettenrekorder. Eine Zimmerleuchte konnte ich dagegen nicht entdecken, stattdessen wurde der Raum durch eine alte Stehlampe neben der Tür, ihrer Schreibtischlampe und ihrer Nachttischlampe erhellt. Irgendwie fand ich es direkt romantisch. »Komm, setz’ dich!« bat sie mich nun. Ich folgte und sie schlüpfte wieder in ihr Bett. Erst jetzt sah ich, daß sie einen Schlafanzug trug. »Wie geht es dir?« fragte ich sie. »Geht schon wieder besser«, antwortete sie, »heute morgen hatte ich so ein komisches Gefühl und Halsschmerzen. In der ersten Stunde kamen noch Übelkeit und Schwindelgefühle dazu. Mir tat alles weh, und deshalb habe ich den Lehrer gebeten, nach Hause zu dürfen. Er hat dann ein Taxi gerufen und dem Taxifahrer gesagt, er soll mich gleich zum Arzt fahren.« »Was hat der Arzt gesagt?« fragte ich besorgt. »Er meinte, ich hätte sowas wie eine Kreislaufschwäche durch eine verschleppte Erkältung. Ich habe ja niedrigen Blutdruck und normalerweise kommt mein Körper trotzdem mit Erkältungen klar, aber irgendwann macht es sich doch bemerkbar, besonders jetzt, wo ich meine Periode habe.« Ich staunte Bauklötzer, und sie bemerkte das auch. »Wundert dich irgendwas?« fragte sie. »Ja. Du bist das erste Mädchen, das mit mir über ihre Periode gesprochen hat«, gab ich offen zu. Sie zuckte mit den Schultern und meinte dann: »Das ist doch nichts Besonderes, warum sollte ich es dir nicht erzählen? Nur weil du zufällig männlich bist und sie nicht hast? Verstehen kannst du es ja trotzdem.« Jetzt mußte ich lächeln, und sie lächelte zurück. Dann sagte sie: »Weißt du, daß du der erste Junge bist, der mich besucht?« »Echt?« fragte ich verwundert, »Wieso denn das?« »Andere haben sich halt bisher nicht getraut«, antwortete sie ein bißchen verschmitzt. Dann meinte sie ein wenig erstaunt: »Du bist überhaupt ganz anders als alle, die ich je in meinem Leben getroffen habe.« »Wie meinst du das?« wollte ich wissen. »Du bist der einzige in der ganzen Schule, der nett zu mir ist. Du hast wegen mir Auseinandersetzungen mit deinem Tischnachbarn und sicher auch mit den anderen in der Fahrgemeinschaft auf dich genommen, als ich mit euch fahren wollte. Außer dir hat noch nie jemand auf mich gewartet, ich war immer froh, wenn ich dich nach dem Schulschluß in der Pausenhalle gesehen habe. Du warst auch der erste, der mehr von den Gesundheitsbonbons haben wollte. Und außerdem bist du der einzige, der jemals bewußt meinen Blick spüren wollte. Warum?« Das war eine gute Frage. Glücklicherweise hatte ich die Antwort schon im Kopf. »Weißt du, es gibt da diesen berühmten Satz: Man sieht nur mit dem Herzen gut, denn das Wesentliche ist unsichtbar für die Augen. Und ich habe mich bemüht, dich mit beidem zu sehen. Am Anfang war es immer so, daß ich so eine Art Kriechstrom gespürte habe, sobald du in mein Blickfeld kamst. Aber es war nicht unangenehm, sondern für mich war es etwas Besonderes.« »Ich bin aber gar nichts Besonderes.« »Doch, bist du.« Die Verwunderung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Warum?« fragte sie. Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: »Ganz einfach: Du bist nett, offen und zuverlässig, hast im Gegensatz zu vielen deiner Klassenkameradinnen auch echt was im Kopf, gibst auch mal was, hast Humor und man kann sich total gut mit Dir unterhalten. Außerdem bist du richtig natürlich, verstellst dich nicht und hast ein wunderschönes Lächeln.« »Wirklich?« fragte sie, und eben dieses Lächeln trat bei ihr jetzt wieder zutage. Dann wurde sie wieder skeptisch. »Eins verstehe ich trotzdem nicht: Warum hattest du nie Angst vor meinem Blick?« »Weil ich keine Angst zu haben brauchte: Ich vertraue dir«, erklärte ich mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gab sie zu, und in ihrer Stimme lag plötzlich Traurigkeit, »mir hat noch nie jemand so vertraut wie du. Ich war auch noch nie für irgendwen etwas Besonderes. Es hat auch noch nie jemand so viel für mich getan wie du. Ich bin dir so dankbar!« Sie schien gerührt zu sein, und ich war mir nicht sicher, ob ich weiterfragen durfte. Aber da hatte ich die Frage schon ausgesprochen: »Warum hat es denn niemand getan?« Als sie mir jetzt in die Augen sah und zu erzählen anfing, konnte ich in ihren einen Schimmer tiefsten Vertrauens sehen, und es wurde mir bewußt, daß ich nun etwas erfahren würde, was sie noch nie jemandem vorher erzählt hatte. »Meine Eltern sind beide Unternehmer und wollten eigentlich keine Kinder. Dann kam ich auf die Welt und in den ersten Jahren gaben sie sich Mühe, gute Eltern zu sein. Als ich fünf wurde, ließen sie mich allmählich spüren, daß ich ihnen lästig war. Wenn andere Kinder spielen durften, mußte ich immer etwas für sie erledigen. Sie meinten ich sei alt genug dafür, Aufgaben zu übernehmen. Am Anfang waren es nur Kleinigkeiten, aber mit den Jahren wurde es immer mehr. Ich hatte nie Zeit Freunde zu finden, weil ich ständig bei meinen Eltern mitarbeiten mußte. Aber es wollte sowieso niemand etwas mit mir zu tun haben, weil alle Angst vor meinem Blick hatten, er wäre so dämonisch, sagten sie mir. Jedenfalls wurde es immer schwerer für mich, das alles zu ertragen, ich nahm immer mehr ab und meine schulischen Leistungen verschlechterten sich so sehr, daß die Vertrauenslehrerin der Schule mich eines Tages sehen wollte und alles erfuhr. Sie verständigte das Jugendamt, meinen Eltern wurde die Erziehungsgewalt entzogen und ich kam zu meinem Großeltern. Von da ab ging es mir wieder besser, und ich fand auch eine Freundin. Aber ich hatte sie nur ziemlich kurz, sie sagte eines Tages zu mir, sie müsse sich von mir trennen, weil ihre Freundinnen Angst vor mir hätten und ihr sonst die Freundschaft kündigen würden. Von da an war ich wieder allein und es ging so weiter, bis ich in die Schule kam, in der du auch bist.« »Sag mal, deinen Blick, hattest du den denn schon immer?« fragte ich vorsichtig. »Ja, ist angeboren«, sagte sie mit Resignation in der Stimme, »ich habe mal versucht, ihn wegzuschminken, aber es sah dann nur noch schlimmer aus. Also ließ ich es gleich ganz sein.« Plötzlich schaute sie mich wieder verwundert an. »Weißt du, ich war total erstaunt, als du mir erzählt hast, du hättest durch meinen Blick ein Meer und ein Licht gesehen. Ich habe mich danach extra vor den Spiegel gestellt, aber da ist nichts passiert. Du mußt eine große Vorstellungskraft haben.« »Ich glaube, die Kraft geht in diesem Fall aber von dir aus«, erklärte ich, »und ich bin dir heute noch dankbar, daß ich dir in die Augen sehen durfte. Deshalb habe ich dich heute auch gesucht, um...« Die Mohrenköpfe! Jetzt fielen sie mir siedend heiß wieder ein. Ich griff zu meinem Beutel und zog sie heraus. »Magst du die?« fragte ich. »Ja klar«, sagte sie lächelnd. »Bittesehr, sie gehören hiermit alle dir.« »Danke. Ißt du welche mit?« »Wer kann dem freundschaftlichen Angebot einer solch reizenden jungen Dame wie dir schon widerstehen« scherzte ich. Sie kicherte, dann gab sie mir einen und sagte: »Für den reizenden jungen Herrn mit dem großen Mut vor dem dämonischen Blick!« Ich verneigte mich, dann aßen wir zusammen die ersten Mohrenköpfe. Sie waren beide schwarz. Allerdings war es eine gemischte Schachtel, es waren also auch weiße Mohrenköpfe dabei. »Moment, ich leg’ mal eine Kassette ein« sagte sie. Die Kassette hatte sie schon in ihrer Hand, aber sie hätte sich verrenken müssen, um an den Kassettenrekorder zu kommen, der zu weit neben ihrem Bett stand. Ich nahm ihr die Kassette ab und legte sie ein. »Du brauchst nicht immer alles allein zu machen«, erklärte ich ihr, »Freunde helfen sich immer gegenseitig.« »Freunde?« fragte sie, »Heißt das, du willst dich mit mir anfreunden?« Ich ahnte, daß jetzt ein weiterer magischer Moment kommen würde und antwortete: »Ja, wenn du einverstanden bist.« Sie zwinkerte verwirrt. »Ich muß dich aber darauf hinweisen, daß du es nicht leicht mit mir haben wirst.« »Warum?« Wieder lag Traurigkeit in ihrer Stimme. »Es könnte genau dasselbe passieren wie damals mit meiner Freundin: Deine Freunde könnten dir wegen mir die Freundschaft kündigen wollen, weil ich ihnen zu unheimlich bin. Und ich kenne mich mit Freundschaften nicht aus, es könnte also sein, daß ich schnell mal was falsch mache.« »Gib mir mal deine Hände.« Sie gab sie mir, obwohl die Verwunderung in ihrem Gesicht abzulesen war. Während ich ihre Hände hielt, schaute ich ihr direkt in ihre Augen, die so grün waren wie die irische Insel, und sagte dann: »Genauso, wie ich jetzt deine Hände halte, will ich immer deine Freundschaft halten, zu dir stehen und dein Vertrauen bestärken, und ich wünsche mir daß wir von jetzt ab gute Freunde sind und auch bleiben werden, egal was kommt. Dafür drücke ich uns die Daumen.« Ich drückte statt der Daumen leicht ihre Hände, und als ich sie ihr zurückgeben wollte, sagte sie: »Das war lieb von dir. Darf ich dir auch was geben?« »Na klar.« »Ich möchte dich umarmen.« Ich rückte extra noch näher mit dem Stuhl an ihr Bett heran. Dann umarmte sie mich, zog sich an mich und sagte: »Ich bin froh, daß wir Freunde sind.« Sie löste die Umarmung wieder. Weil dadurch die Bettdecke verschoben wurde, fiel der Karton mit den Mohrenköpfen rappelnd herunter auf den Fußboden. Zum Glück war keiner herausgefallen. »Das müssen wir mit den weißen Mohrenköpfen besiegeln, einverstanden?« fragte ich grinsend. »Total einverstanden«, war ihre Antwort. Gerade waren wir dabei, die Mohrenköpfe zu verputzen, da klopfte es an der Tür. »Das ist sicher wieder meine Oma«, sagte sie und rief: »Was ist?« Die Tür öffnete sich und es war tatsächlich ihre Oma, die hereinschaute. »Alles in Ordnung? Es wird langsam Zeit zu gehen!« sagte die alte Dame. »Mir geht es gut, Oma. Aber darf mein Klassenkamerad noch ein bisschen bleiben? Wir bereiten gerade den Tag für morgen vor und sind noch nicht ganz fertig.« »Na gut. Ich komme später nochmal wieder«, sagte ihre Oma und ging wieder. »Coole Ausrede« meinte ich zu ihr und grinste. »Klar« sagte sie und lächelte, »gute Freunde helfen sich immer gegenseitig.«
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