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Gesundkrankheit

Vielleicht hatte mein überkritischer Tischnachbar sogar recht, denn inzwischen war ich mir nicht mehr so sicher, ob die Magie, die von unserer neuen Mitschülerin ausging, nicht doch Hexerei war. Zwei Gründe sprachen aber dagegen: Wenn sie wirklich hexen konnte, dann hätte sie sicher nicht nur schon was dagegen unternommen, daß sich andere ihr gegenüber so distanziert verhielten, sondern auch etwas gegen ihren dämonischen Blick getan, der ihr diese unheimliche Aura gab. Und doch, das was ich in ihrer Nähe erlebte, war dermaßen seltsam, daß es eigentlich nicht mit rechten Dingen zugehen konnte, und noch seltsamer war die Tatsache, daß ich weder ihr Lächeln noch ihre Stimme vergessen konnte, egal was ich tat. Möglicherweise war doch so eine Art Magie daran schuld, und ich nahm mir fest vor, es in den nächsten Tagen herauszufinden.
Dazu kam es aber nicht, denn mein unfreiwilliger Aufenthalt im Regen hatte meine Gesundheit mehr in Mitleidenschaft gezogen, als ich es geahnt hatte. Das machte sich am Wochenende durch heftige Halsschmerzen bemerkbar, und ich wußte, daß dies ein untrügliches Zeichen dafür war, sehr bald eine Erkältung zu haben. Und je heftiger die Halsschmerzen waren, desto länger würden sie dauern - keine guten Aussichten also.
Am Sonntagmorgen waren die Halsschmerzen so schlimm, daß ich eine Aspirintablette nehmen mußte, um nicht durchzudrehen. Abends hatten sie zum Glück wieder etwas abgenommen. Trotzdem schlief ich schlecht in dieser Nacht, denn einmal ging mir dauernd die Frage im Kopf herum, ob morgen mit der Fahrgemeinschaft, die ja eine neue Mitfahrerin haben würde, auch alles gutging, und dann war da die unweigerlich kommende Erkältung, durch die ich mich entsprechend unwohl fühlte.
Am nächsten Morgen waren die Halsschmerzen schon fast verschwunden, aber meine Nase war dafür halb verstopft. Ich holte wie immer meinen anderen Kumpel ab, der leider nicht so pünktlich gekommen war, wie ich es mir gewünscht hatte, und fuhr dann der Ortschaft entgegen, in der sie wohnte.
»Hoffentlich ist sie auch da«, sagte mein Kumpel.
»Ich glaub’ schon, obwohl ich jemanden kenne, dem es am liebsten wäre, wenn sie nicht da ist.«
»Deinem Tischnachbarn?«
»Genau. Du weißt ja wie er sich aufregt, wenn er mal mit etwas weniger Platz auskommen muß als vorher.«
»Kann ich mir gut vorstellen«, meinte mein Kumpel und grinste, denn er kannte meinen Tischnachbarn und seine Launen schon.
Jetzt hatten wir die Ortschaft erreicht. Wie vereinbart wartete unsere neue Mitfahrerin schon an der Kreuzung, obwohl wir etwas zu früh ankamen. Ich hätte mir also überhaupt keine Sorgen machen müssen.
»Morgen«, sagte sie und stieg ein, wir begrüßten sie und fuhren dann weiter. Anschließend kam die Schülerin hinzu und eine Weile später noch mein Tischnachbar, dessen Begrüßung sich so knurrig anhörte wie ein vom Hund gebissener Briefträger.
Die Fahrt verlief zum Glück ohne Zwischenfälle, und so waren wir bald darauf im Klassenraum der ersten Stunde und hörten unserem Lehrer zu. Ich muß zugeben, ich hasse Montage, und diesen hasste ich besonders, denn ich fühlte mich, als hätte ich Fieber, und fror, obwohl es warm genug war. So machte natürlich kein Unterricht Spaß, und zu allem Überfluß war mein Tischnachbar fast den ganzen Vormittag lang so gereizt, daß jede Diskussion mit ihm zu einer lauten Auseinandersetzung führte. Ich war deshalb froh, als die letzte Stunde vorüber war und es nach Hause gehen konnte, aber vorher mußten wir in der Pausenhalle noch auf unsere neue Mitfahrerin warten. Wie üblich hatte mein Tischnachbar nach einer Weile keine Geduld mehr und sagte, er ginge schonmal voraus. Dabei hätte er nur noch eine halbe Minute warten müssen, dann war sie da.
»Hallo«, sagte sie, »wo ist dein Tischnachbar?«
»Der hatte es wie immer eilig und ist schonmal vorausgegangen«, antwortete ich ihr.
Sie nickte und folgte mir nach draußen, wo wir zum Parkplatz gingen. Mir fiel plötzlich auf, daß ich von meiner Erkältung auf einmal nichts mehr spürte. Das blieb auch während der Fahrt so, erst als ich zu Hause angekommen war, kam das Fiebergefühl zurück. War das Zufall oder lag es an ihr? Es konnte doch nicht sein, daß ich mich nur dann gesund fühlte, wenn sie in meiner Nähe war, oder doch? Und wenn doch, wie machte sie das nur? Ohne es zu wissen, hatte ich damit die vierte der sieben Seiten der Seltsamkeiten entdeckt: Gesundkrankheit.
Den Rest des Tages mußte ich ungewöhnlich oft niesen, und ich wußte schon, was das hieß. Der nächste Morgen hatte es mir dann gleich bestätigt: Meine Nase war nun total verstopft, ich fühlte mich wie von einer Dampfwalze überrollt, und es ging mir erst etwas besser, als ich heißen Tee getrunken hatte.
Nachdem ich losgefahren und mein anderer Kumpel in das Auto eingestiegen war, fragte er mich, warum ich nicht zu Hause blieb und die Erkältung auskurierte. Ich antwortete ihm, das ginge nicht, weil wir gerade heute ein wichtiges Fach hatten, bei dem man sich es nicht erlauben konnte, zu fehlen. Den zweiten wichtigen Grund verschwieg ich allerdings: Ich wollte unsere neue Mitfahrerin nicht enttäuschen, schließlich hatte ich ja versprochen, sie abzuholen, und daran wollte ich mich auch unbedingt halten.
Meine Nase verhielt sich immer schlimmer, und nachdem ich auch meinen Tischnachbarn abgeholt hatte, mußte ich einmal so heftig niesen, daß sie wie wild zu laufen anfing. Zum Glück wurde die Ampel am Ortsende rot, und ich versuchte während des Wartens an meine Taschentücher in der hinteren Hosentasche zu kommen, was sich als sehr schwer erwies, weil der Sicherheits-gurt im Wege war. Meine Fahrgemeinschaft war gerade wieder in eine Unterhaltung vertieft, und so bemerkte es offenbar niemand, wie sehr ich mich abmühte. Ich war kurz davor, zu verzweifeln.
Plötzlich reichte mir jemand ein Taschentuch.
Ich sah rechts vor mir nur eine Hand und das Taschentuch und überlegte kurz, wem sie gehören könnte. Es war eine schöne, weibliche Hand mit kurzen Fingernägeln, deshalb konnte es nicht die Hand der Schülerin sein, denn deren Fingernägel waren eindeutig länger. Also konnte es nur noch eine Möglichkeit geben. Um sicherzugehen, drehte ich mich um, so weit es ging. Es war finster im Auto, aber ich konnte trotzdem deutlich genug erkennen, daß es tatsächlich sie war.
»Vielen Dank«, sagte ich und nahm das Taschentuch, »du bist meine Rettung«.
Ich konnte ihr Gesicht nicht gut erkennen, dazu war es zu dunkel, aber auf einmal wußte ich, daß sie lächelte. Bis heute kann ich nicht sagen, woher ich das wußte, denn sehen konnte ich es nicht. Aber es war so eine Art Eingebung, wie wenn man plötzlich weiß, daß man nicht mehr rechtzeitig zum Bus kommt oder eine wichtige Nachricht erhalten wird. Erklären kann man sowas einfach nicht.
Meine Nase schien jedenfalls von ihrem Taschentuch richtig beeindruckt zu sein, denn nachdem ich es benutzt hatte, hörte sie sofort auf zu laufen und wagte es auch nicht, wieder damit anzufangen. Kurz danach wurde die Ampel grün, so als hätte sie nur auf mich gewartet, und wenig später waren wir schon bei der Schule angekommen.
Einige meiner Mitschüler zweifelten offen an meinem Verstand und fragten mich, warum ich in einem solchen Zustand nicht zu Hause geblieben sei. Ich antwortete, dafür wäre ich schon wieder zu krank und müßte deshalb einfach kommen. Einige Lehrer waren von meinem Durchhaltvermögen ziemlich beeindruckt und versorgten mich mit allerlei guten Ratschlägen, die ich jedoch hinterher schnell wieder vergaß.
Zum Glück hatte ich in meiner Schultasche genug Taschentücher mitgenommen und legte sie mir bei der Rückfahrt auch jederzeit greifbar zurecht. Mein Tischnachbar verfluchte meine Durchhalteaktion und hielt wo es ging Abstand von mir, um ja nicht angesteckt zu werden. Am schlimmsten fand ich, daß mir nichts mehr Spaß machte und mich zusätzliche Kopfschmerzen plagten. Wieder zu Hause bekämpfte ich die Erkältung dann mit altbewährten Mitteln: Ich nahm ein schönes heißes Bad, aß viel Obst und lutschte pausenlos mein altes Wundermittel, Eukalyptusbonbons. Die lutschte ich auch hin und wieder dann gern mal, wenn ich nicht erkältet war. Auf dieses Wundermittel war meistens Verlaß, und ich rechnete schon damit, in zwei bis drei Tagen alles überstanden zu haben.
Da irrte ich mich natürlich, die Erkältung zog sich trotz dieser Maßnahmen in die Länge. Sie wurde zwar nicht schlimmer, aber auch nicht besser. Mein Tischnachbar beschwerte sich, wie es auch nicht anders zu erwarten war, über den »Gestank« meiner Eukalyptusbonbons und drohte damit, sich demnächst Nasenfilter zu besorgen.
»Wohl kein Mitleid mit einem Kranken«, antwortete ich, woraufhin sich mein Tischnachbar noch mehr aufregte und ein paar wenig sinnvolle Alternativen vorschlug, z. B. Medikamente für die Nase einzunehmen. Aber ich hatte etwas gegen diese Art chemische Keulen und traute meinem Körper zu, allein mit dem Problem fertigzuwerden, auch wenn es dann etwas länger dauern sollte.
Am letzten Schultag in der Woche passierte etwas Ungewöhnliches, was aber nur daran lag, daß ich die Art einer Vereinbarung schon wieder vergessen hatte. Ich stand in der Pausenhalle und wartete auf meinen Tischnachbarn, der sich wie immer in der ersten Pause eine kleingeschnittene Currywurst beim Kiosk holte, als plötzlich sie auftauchte.
»Ich muß dich mal was fragen«, begann sie wieder vorsichtig, »die Probezeit ist ja jetzt um. Kann ich auch nächste Woche bei euch mitfahren?«
In ihren Augen sah ich wieder diese Unheimlichkeit, aber auch eine kleine Hoffnung und die Angst, eine Ablehnung zu erhalten, wie damals ganz am Anfang, als sie sich vor mich hinsetzen wollte. Für mich war sie jetzt eine ganz normale Mitfahrerin wie die Schülerin auch, und bisher waren alle mit ihr sehr gut ausgekommen, deshalb hatte ich die Probezeit schon längst wieder vergessen. Der einzige, der wieder Theater machen würde, war mein Tischnachbar, aber das war ich ja gewohnt. Plötzlich wünschte ich mir, ihren dämonischen Blick zu haben und ihn mal bei meinem mürrischen Tischnachbarn ausprobieren zu können. Ich stellte mir vor, wie er ein erschrecktes Gesicht machte und entgeistert »Geht klar« stammeln würde. Der Gedanke daran brachte mich unwillkürlich zum Grinsen, und sofort hatte ich auch die Antwort parat:
»Klar kannst du das, ich hab’ absolut nichts dagegen.«
»Und die anderen?«
»Die sicher auch, bis jetzt hat sich noch keiner beschwert. Außerdem sind alle gut mit dir zurechtgekommen.«
»Und dein Tischnachbar?«
»Ach der«, sagte ich und machte eine abwehrende Geste, »mach’ dir darum keine Gedanken. Er ist halt oft sarkastisch und was er dann sagt, meint er gar nicht so. Vorerst kannst du jedenfalls mit Sicherheit weiter mitfahren.«
»Vielen Dank, das find’ ich super!«
Dem Klang ihrer Stimme und ihrem Lächeln war anzumerken, wie erleichtert sie war, und ich war unheimlich froh, ihr diese Sorge abgenommen zu haben. Plötzlich schaute sie in eine andere Richtung, dann wieder zu mir.
»Ich habe hier übrigens noch ein Bonbon, das ist gut gegen Erkältungen und wird dir sicher helfen. So, ich muß jetzt los, also bis später.«
Sie reichte mir das Bonbon und machte sich dann schnell aus dem Staub. Da stimmt was nicht, dämmerte es mir, und als ich mich umdrehte, sah ich den Grund: Mein Tischnachbar kam herauf, mit einer Miene sauer wie eine Zitrone, denn er hatte ungewöhnlich lange warten müssen.
»Na, was gab es denn mit der Brockenhexe zu besprechen?«
Ich stellte mich dumm.
»Welche Brockenhexe?«
»Na dieses Weib, mit dem du dich gerade unterhalten hast.«
»Ich kenne kein Weib.«
Mein Tischnachbar stöhnte laut.
»Meine Güte, du weißt schon wer.«
»Falls du unser neue Mitschülerin meinst, ich habe ihr gerade gesagt, daß sie nächste Woche wieder mitfahren kann.«
»Nein!«
»Doch!«
»Das gibt’s doch nicht«, fluchte er laut, ging ein paarmal kopfschüttelnd auf und ab und vergaß währenddessen sogar seine Currywurst.
»Ich denke, es sollte nur für eine Woche sein!«
»Ja, probeweise. Und du bist der einzige, der sich bei mir über sie beschwert hat.«
»Komm schon, die anderen waren auch nicht gerade begeistert.«
»Sie waren aber auch nicht eindeutig dagegen.«
Er knurrte wieder, und nach ein paar Stücken von seiner Currywurst meinte er schließlich:
»Tja, dann muß ich mich wohl weiter quetschen, und du hast schuld!«
»Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte ich und grinste, »jedem würde es gefallen, neben zwei reizenden Mädchen zu sitzen.«
»Hähä«, knurrte er zurück, »aber nicht neben diesen Tussen. Sie stinken immer nach billigem Parfüm und labern dummes Zeug.«
»Glaube ich nicht. Außerdem, ein Gentleman hält sowas aus.«
»Ach ja, natürlich, und ich bin anscheinend keiner. Du aber auch nicht!«
»Jedenfalls mehr als du!«
Er fluchte weiter, und ich stand an das Geländer der Treppe gelehnt und grinste dauernd, was meinen Tischnachbar dazu brachte, sich noch mehr aufzuregen. Er konnte ja nicht ahnen, daß ich mir in den schönsten Einzelheiten vorstellte, wie der dämonische Blick bei ihm wirken müßte, und deshalb prallten auch alle seine Flüche und Beleidigungen von mir ab.
Am Ende der Pause fiel mir ein, daß ich ja immer noch ihr Bonbon in der Hand hielt. Es war klein und dunkelbraun, fast quadratisch. Also schob ich es endlich in den Mund und lutschte neugierig drauflos.
Man kennt ja diese Werbespots im Fernsehen, wo die Leute Bonbons in den Mund nehmen und dann kehlige Laute des Wohlbehagens von sich geben. Das kann man natürlich glauben oder nicht, aber mir ging es in diesem Moment genauso. Ihr Bonbon hatte einen unglaublich frischen, würzigen und total angenehmen Geschmack, der sogar noch etwas besser war, als der meiner Eukalyptusbonbons. Mein Tischnachbar verstand meine Reaktion nicht und hielt mich nun endgültig für ausgerastet. Keine zwei Minuten später war meine Nase frei! Ich konnte es selbst kaum glauben, aber sie hatte recht gehabt, das Bonbon half mir, und das mehr als genug. Ich nahm mir vor, sie bei der nächstbesten Gelegenheit zu fragen, wo man diese Wunderdinger kaufen konnte, denn ich hatte sie noch nie irgendwo gesehen, und das erschien mir wie ein Rätsel. Es sollte nicht das einzige bleiben, denn bald sollte ich einem gegenüberstehen, das noch viel größer war als dieses.

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