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Lösungsrätsel

Es war schon seltsam, daß meine Erkältung so gut wie verschwunden war und auch blieb, nur durch dieses einzige Bonbon. Ich fragte mich, ob das Zufall war oder immer funktionierte, jedenfalls ging es mir am Wochenende wieder spürbar besser.
Die nächste Woche brach an. Das Wetter blieb schlecht, und wenn es mal nicht regnete, dann war der Tag durch den wolkenverhangenen Himmel trüb wie eine Milchglasscheibe. Fast immer war es kühl, windig und naß, ab und zu nieselte es auch, und die Laune der meisten Leute sah nicht besser aus. Den besten Beweis dafür lieferte unser Klassenlehrer, der noch empfindlicher und gereizter war als sonst und sich über jede noch so leise Unterhaltung mit dem Tischnachbarn aufregte, was die allgemeine Motivation, ohnehin gering, noch mehr schmälerte. Deshalb war ich wirklich froh, als die nächste Stunde, nämlich Religion, begann.
Ich war ein bisschen am Dösen und bekam deshalb nicht richtig mit, wie die Lehrerin hereinkam und mit dem Unterricht begann. Erst als ich plötzlich eine Stimme hörte, wurde ich wieder richtig wach. Es war eine sehr angenehme weibliche Stimme, harmonisch und irgendwie herzlich und plötzlich fühlte ich wieder diesen Kriechstrom. Mir kam ein Verdacht.
»Deine Antwort stimmt!« sagte unsere Religionslehrerin, »aber ich habe dich hier noch gar nicht gesehen. Wer bist du denn?«
Erst jetzt sah ich, daß sie mit unserer neuen Mitschülerin sprach, die ein paar Reihen weiter hinten saß und gerade ihren Namen nannte. Sie hatte einen sehr ungewöhnlichen Namen, er mußte wohl irgendwo weit außerhalb Europas stammen, denn er endete nicht wie die meisten Mädchennamen entweder auf »A« oder auf »E«, und ich hatte richtig Mühe, ihn mir zu merken, obwohl ich sonst kein schlechtes Namensgedächtnis habe. Aber warum nahm sie plötzlich am Religionsunterricht teil? Dieser Unterricht war die einzige Stunde, die ich mal nicht mit meinem Tischnachbarn zusammen hatte, denn er hatte sich dem Lager der Nichtteilnehmer angeschlossen und verbrachte die Zeit in den Kaufhäusern in der Stadt. War das vielleicht der Grund?
»Machst du jetzt immer mit?« fragte unsere Religionslehrerin.
»Ja«, antwortete sie.
»Aha, und warum erst jetzt?«
»Ich war nicht vom Anfang an dabei, sondern bin erst später in diese Klasse gekommen.«
Daraufhin trug unsere Lehrerin noch etwas ins Klassenbuch ein und fuhr dann fort, Fragen zu stellen und Einzelheiten an die Tafel zu schreiben.
Mir gingen nur noch Fragen im Kopf herum und ich nahm mir vor, sie ihr am Ende der Stunde zu stellen. Doch dazu kam es nicht, denn als es klingelte, ging die Tür auf und mein Tischnachbar kam herein, um mir stolz zu zeigen, welche CD er sich in der Stadt gekauft hatte.
Doch ich sollte noch eine zweite Chance bekommen, und zwar nach dem Unterrichtsende, als ich wie so oft in der Pausenhalle wartete. Zwischen meinem Tischnachbarn und mir hatte es mal wieder Streit gegeben, weil er es eilig hatte und nicht länger auf diese »Tusse«, wie er sie nannte, warten wollte. Ich wußte aber, daß er nur wild darauf war, seine neue CD anzuhören und gab nicht nach. Daraufhin war er wutschnaubend Richtung Auto davongestrampft. Kurz danach kam sie durch die Tür.
»Hallo«, sagte sie, als sie bei mir war. Wir setzen uns in Bewegung.
»Hallo«, gab ich zurück, »ich war heute echt überrascht, dich im Religionsunterricht zu sehen. Warum nimmst du jetzt daran teil? Ich meine, du könntest genausogut frei haben.«
»Ja, aber Religion hat mich schon immer interessiert, ich habe viel darüber gelesen. Ich wußte zuerst gar nicht, daß es hier so einen Unterricht gibt und dann habe ich mich gleich entschlossen, daran teilzunehmen«, erklärte sie.
»Übrigens, dein Bonbon war echt klasse, meine Nase war danach total frei. Wo gibt es die zu kaufen?«
Sie lächelte vieldeutig.
»Die kannst du nicht kaufen, die macht meine Oma selbst. Ich habe zufällig noch drei Stück bei mir. Willst du sie haben?«
»Ja, aber dann hast Du ja keine mehr«, antwortete ich, völlig überrascht von ihrem Angebot.
»Doch, zu Hause hab’ ich noch ein ganzes Glas voll. Außerdem ist es schön, wenn sie dir helfen. Moment!«
Sie machte kurz ihre Tasche auf und reichte mir dann die drei Bonbons, die genauso dunkel und fast quadratisch waren wie das erste.
»Vielen Dank«, sagte ich, »das ist wirklich sehr nett von dir!«
»Keine Ursache«, gab sie zurück, »gern geschehen!«
Ihr Lächeln war so faszinierend, daß es mich wieder in seinen Bann zu schlagen drohte. Gerade noch rechtzeitig schaute ich in eine andere Richtung und bekam dadurch mit, daß ich schon dabei war, mit dem Türpfosten zusammenzuprallen. Trotzdem fühlte ich mich herrlich. Heute hatte ich das erste Mal ein längeres Gespräch mit ihr gehabt, und nicht nur das, sie hatte mir wieder ihre Bonbons gegeben, die so gut gegen meine Erkältung wirkten. Wenn ich Flügel gehabt hätte, dann wäre ich vor Glück davongeflogen, so froh war ich in diesem Moment.
Auf der Rückfahrt hatte meinen anderen Kumpel die Diskutierlaune gepackt, und so hatte er mit den beiden Mädchen eine spannende Unterhaltung angefangen. Einzig mein Tischnachbar beteiligte sich gar nicht daran, sondern widmete sich voll und ganz dem Umschlag seiner CD. Plötzlich sagte mein Kumpel:
»Ich habe hier ein Rätsel, mal sehen ob ihr es lösen könnt: Also, was hat morgens vier, mittags zwei und abends drei Beine?«
Es war genau die Frage, die von der berühmten Sphinx in der griechischen Sage jedem gestellt wurde, bis ein Held kam, sie richtig beantwortete und das Fabelwesen sich daraufhin in die Tiefe stürzte. Er grinste schon siegessicher, und zuerst schien es tatsächlich so, als würde keiner die Antwort wissen.
»Na, wißt ihr es nicht?« fragte mein Kumpel nochmal.
»Doch«, sagte plötzlich unsere neue Mitschülerin, »die Anwort ist: Der Mensch.«
Mein Kumpel war verblüfft.
»Wieso das denn?«
»Na wenn er jung ist, krabbelt er auf allen Vieren. Ein Erwachsener geht auf zwei Beinen, und im Alter brauchen viele zum Gehen einen Stock, also ein drittes Bein.«
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich den Eindruck, als säßte da hinten auf der Rückbank tatsächlich die geflügelte Sphinx und triumphierte.
»Woher weißt du das?« fragte mein Kumpel.
»Ich kenne die Geschichte.«
Ich grinste ihn an.
»Tja mein Freund, da hat dich mal jemand richtig erwischt«.
»Na und«, gab er scheinbar unbeeindruckt zurück, »als Belohnung darf sie halt beim nächsten Mal eine Rätselfrage stellen.«
In diesem Augenblick verschlechterte sich der Radioempfang, und er versuchte, einen anderen Sender anzupeilen. Ich hatte seine letzten Worte gar nicht mitbekommen und hielt die Angelegenheit damit für erledigt.
Tags darauf, in der ersten großen Pause, in der ich gerade allein war und zum Kiosk gehen wollte, kam sie plötzlich auf mich zu.
»Ich hab’ hier ein Rätsel für dich. Willst du’s haben?« fragte sie.
»Ja, gern«, sagte ich wagemutig.
Sie gab mir einen kleinen Zettel, auf dem ein paar Zahlen standen, die an der dritten und sechsten Stelle durch einen Punkt getrennt waren. Es sah so aus wie ein Datum.
»Versuch’ mal herauszufinden, was das bedeutet. Noch ein Tip: Es hat was mit Verständigung zu tun. Übrigens kann es sein, daß du die Lösung schon hast.«
Sie lächelte mich neugierig an. Ich sah auf den Zettel und überlegte, was diese mysteriösen Zahlen wohl bedeuten könnten. Ein Datum konnte es jedenfalls nicht sein, denn dann hätte es einen 25. Monat geben müssen. War es vielleicht eine Summe? Oder ein Code?
Als ich wieder aufsah, war sie verschwunden.
Was hatte sie gesagt? Verständigung? Ich hatte die Lösung vielleicht schon? Wo denn? Und was konnten Zahlen mit Verständigung zu tun haben?
Mein Fehler damals war, daß ich die Zahlen nur als solche und nicht als komplette Nummer sah, vielleicht wäre mir dann viel Mühe erspart geblieben. Diese Sachen weiß aber leider immer erst hinterher. Je länger ich darüber nachdachte, desto verwirrter wurde ich und kam zu keinem Ergebnis. Ständig suchte ich nach einer eventuell schon vorhandenen Lösung, aber dies erwies sich als ein viel schwierigeres Rätsel als das mit der Sphinx. Ein Rätsel, zu dem ich die Lösung möglicherweise schon hatte, aber sie trotzdem nicht fand, und damit war ich auf die fünfte Seite der sieben Seiten der Seltsamkeiten gestoßen: Lösungsrätsel.
Ich probierte es mit Buchstaben als Ersatz für die die Zahlen, aber das ergab keinen Sinn. Dann suchte ich nach einem logischen Aufbau, also etwa daß die zweite Zahl das doppelte der ersten ergab und so weiter, aber auch das funktionierte nicht.
Mein Tischnachbar sah mich zufällig mit diesem Zettel und wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Nachdem ich es ihm erklärt hatte, versuchte er sich eifrig daran, aber schon nach nur fünf Minuten gab er ihn mir mit den folgenden Worten zurück:
»Das kann man nicht lösen. Sie hat dich veralbert.«
Er benutzte natürlich nicht das Wort »veralbert«, sondern - wie es typisch für ihn war - ein wesentlich drastischeres. Aber ich glaubte ihm nicht, sie hatte mich noch nie veralbert. Daraus folgte: Zu diesem Rätsel mußte es einfach eine vernünftige Lösung geben. Das Eigenartige daran war nur, daß auch andere Leute außer mir nicht darauf kamen. In der zweiten großen Pause fragte ich meinen anderen Kumpel, ob er nicht eine Idee zu diesem Rätsel hätte, denn immerhin hatte er vom Interesse her ein viel besseres Verhältnis zu Zahlen als ich.
Man kann es glauben oder nicht, er sagte schließlich:
»Nö, die Lösung kann ich auch nicht erkennen. Muß was besonders Kompliziertes sein.«
Auf der Rückfahrt spielten andere Themen eine Rolle, und das Rätsel fiel mir erst wieder in die Hände, als ich die Schultasche für den nächsten Tag packte. Den Nachmittag verbrachte ich zum größten Teil damit, in Büchern nach Lösungen zu suchen, aber weder mein Mathematikbuch mit seinen unzähligen Formeln noch das Lexikon wollten eine Lösung preisgeben. Auch der Schülerkalender, eine Art Taschenbuch mit Beschreibung der gängigsten Geheimschriften, half nicht. Ich begann mich zu fragen, womit ich so ein vertracktes Rätsel verdient hatte. Nun, manche Lösungen brauchen länger als einen Tag, deshalb verschob ich die Suche danach erstmal auf den nächsten und stecke den Zettel wieder in die Hosentasche.
Als wir am nächsten Morgen bei der Schule angekommen waren und auf das Gebäude zugingen, fragte sie mich scheinbar beiläufig:
»Hast du das Rätsel, das ich dir gestern gegeben habe, schon gelöst?«
»Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß, »ich bin immer noch am Lösen.«
»Ist es zu schwer?«
Ich hätte es ja einfach nur zugeben müssen, dann hätte ich mir viel Kopfzerbrechen erspart. Aber stattdessen schüttelte ich den Kopf und sagte:
»Keine Sorge, ich krieg’s schon noch irgendwie ‘raus.«
Sie nickte, und in diesem Moment hatten wir die Tür erreicht und trennten uns.
Ich wußte damals noch nicht, daß sie mir nicht nur einfach ein Rätsel gegeben hatte, sondern es wesentlich mehr bedeutete. Außerdem hatte sie vollkommen recht, die Lösung war so einfach, daß ich mit ein bisschen Glück fast darüber gestolpert wäre. Aber dieses Glück hatte ich nicht, und nachdem ich zu Hause nochmal vergeblich versucht hatte, eine Lösung zu finden, steckte ich den Zettel in meine Hosentasche und vergaß ihn schließlich dort. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, daß er bald eine größere Rolle spielen sollte, als ich zu träumen gewagt hätte.

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