Angstmut
Noch in dieser Woche bekamen wir eine Arbeit zurück, bei der ich mich heftig mit dem Lehrer um einen Punkt stritt, der mir zur besseren Note verholfen hätte, aber er weigerte sich beharrlich und ritt ständig auf den gleichen Argumenten herum. Plötzlich und zu meiner allgemeinen Überraschung wünschte ich mir den dämonischen Blick, denn damit hätte ich ihn nur kurz anstarren müssen, und sofort hätte er mir den fehlenden Punkt zugestanden. Aber ich hatte ihn nicht, würde ihn auch nicht bekommen und mußte mich deshalb mit der Zensur zufriedengeben. Mein Tischnachbar, der dieselbe Note hatte wie ich, meinte dazu, das wäre Schicksal und vielleicht hätte ich bei der nächsten Arbeit mehr Glück. Er schien direkt froh darüber zu sein, daß ich diesen einen Punkt nicht bekommen hatte, und natürlich wartete er auch mal wieder nicht in der Pausenhalle, sondern ging direkt zum Auto. Da das nicht gerade schöne Erlebnisse waren, hatte meine Laune einen Tiefpunkt erreicht, und offenbar mußte ich immer noch ein unzufriedenes Gesicht machen, denn als sie durch die Tür der Pausenhalle gekommen war und schließlich vor mir stand, schien sie etwas bemerkt zu haben. »Du siehst heute so bedrückt aus«, stellte sie fest, »ist was passiert?« Eigentlich wollte ich sie nicht mit meinem negativen Erlebnis belasten, aber da sie nun schon danach gefragt hatte, konnte ich es ihr auch erzählen. »Wir haben heute eine Arbeit zurückbekommen und mir fehlt nur ein Punkt zur besseren Note. Deshalb habe ich mit dem Lehrer darüber diskutiert, aber er wollte ihn mir nicht geben.« »Kann ich die Arbeit mal sehen?« Ich nickte, obwohl ich mich sehr darüber wunderte. Warum wollte sie meine Arbeit haben? Das würde doch jetzt auch nichts mehr nutzen. Trotzdem öffnete ich meine Tasche und reichte sie ihr hin. Sie sah sie durch und nach einer Weile lächelte sie. »Die Punktzahl stimmt nicht.« Ich hatte nicht richtig verstanden, wie sie das meinte und sagte: »Ja, ich finde auch, bei Aufgabe vier hätte er mir mehr Punkte geben müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Dein Lehrer hat sich verrechnet. Wenn man alle Punkte zusammenzählt, hast du am Ende einen Punkt mehr, als er hingeschrieben hat.« »Wirklich?« »Ja, schau.« Sie zeigte es mir und zählte vor meinen Augen alle Punkte zusammen. Und sie hatte recht, am Ende war es ein Punkt mehr. »Ich würde morgen zu dem Lehrer gehen und ihn darauf hinweisen. Dann bekommst du sicher deine bessere Note.« »Das gibt’s doch nicht, das mir das nicht aufgefallen ist. Vielen Dank, du bist ein Genie!« Sie lächelte wieder. »Das ist nichts Besonderes. Lehrer verzählen sich ab und zu mal. Ich habe das auch schon ein paarmal erlebt.« Wir gingen weiter und währenddessen erzählte sie mir von ihren Erlebnissen mit Lehrern. Leider dauerte das Gespräch nicht lange, da wir schon kurze Zeit später vor dem Auto standen. Und obwohl wir nicht länger als sonst gebraucht hatten, beschwerte sich mein Tischnachbar: »Mensch, das hat ja wieder eine Ewigkeit gedauert. Hättet ihr nicht noch langsamer gehen können? Ich will endlich nach Hause, hab’ tierischen Kohldampf!« Wenn er hungrig war, dann hatte mein Tischnachbar grundsätzlich schlechte Laune, und deshalb ersparte ich mir jegliche Erklärung. Am nächsten Morgen ging ich gleich ins Lehrerzimmer, sprach mit dem Lehrer und nachdem er die Arbeit nochmal kontrolliert hatte, meinte er: »Hoppla, Entschuldigung, da habe ich tatsächlich was übersehen. Das nächste Mal werde ich gleich nachzählen. Gut, ich werde die Arbeit gleich verbessern und gebe sie dann nächste Stunde zurück.« Zufrieden verließ ich das Lehrerzimmer wieder. Meine Laune war schlagartig besser geworden, sogar so sehr, daß mein Tischnachbar argwöhnisch wurde und fragte: »Warum grinst du denn die ganze Zeit so?« Nachdem ich ihm den Grund erklärt hatte, sagte er mir mit saurem Gesicht: »Glückwunsch. So viel Dusel will ich auch mal haben. Und wie biste darauf gekommen, daß noch ein Punkt fehlt?« »Unsere neue Mitschülerin hat mich auf die Idee gebracht. Ich habe ihr gestern die Arbeit gezeigt und sie hat nachgezählt.« »Dieser Tusse zeigst du deine Arbeit?« fragte mich mein Tischnachbar, als ob er an meinem Verstand zweifeln würde. Dann meinte er sarkastisch: »Am Ende hat sie diesen einen Punkt dazugehext. Würde mich nicht wundern bei so einem Weib. Wer weiß, was ihr da gestern zusammen getrieben habt.« »Du hast doch nicht mehr alle Tassen im Schrank«, gab ich zurück. Aber offenbar war meinem Tischnachbarn die Lust am Diskutieren vergangen, denn statt einer patzigen Antwort sagte er: »Egal, ich geh’ mir jetzt ‘ne Currywurst holen.« Ich wußte, daß mein Tischnachbar im Wirklichkeit nur neidisch auf meine bessere Zensur war. Deshalb vergaß ich diese Streiterei schnell wieder, und zum Glück kam er auch nicht mehr darauf zurück. Einige Tage vergingen ohne besondere Ereignisse. Aber trotzdem fiel mir etwas auf: War die letzte Unterrichtsstunde vorüber und ich ging in die Pausenhalle, um mir ihr zusammen zum Parkplatz zu gehen, war sie jetzt seltsamerweise immer etwas früher da, so als würde sie auf mich warten wollen. Zuerst dachte ich, das wäre reiner Zufall, aber dann ich stellte fest, daß sie an allen Tagen, an denen sie weniger oder die gleiche Anzahl an Stunden hatte wie ich, auf mich wartete und ich mich felsenfest darauf verlassen konnte, egal ob ich mir nun Zeit ließ oder nicht. Selbst als ich einmal den Versuch machte und den Unterricht fünf Minuten früher verließ, als er eigentlich zu Ende war, und mich extra beeilte, zur Pausenhalle zu kommen, war sie eher da. Wie schaffte sie das bloß? Ich wußte es nicht. Andererseits mußte ich mir auch gestehen, daß es mir zwar seltsam vorkam, aber insgeheim freute ich mich darüber. Es ist ein unheimlich schönes Gefühl, wenn man weiß, einer Person offenbar so wichtig zu sein, daß sie sogar die unbequeme Warterei auf sich nahm. Ich vermutete, daß sie mir damit nichts beweisen wollte, sondern sich einfach bei mir sicherer fühlte als bei den anderen, die sie so gut wie nicht kannte. Ob das nun stimmte oder nicht, für mich reichte es als Erklärung aus. Am Freitag jedoch war sie nach der letzten Stunde zuerst nicht da. Ich wunderte mich schon etwas darüber, da sah ich sie durch die Tür kommen, aber ihr Blick war anders als sonst, richtig finster und hatte wieder dieses Dämonische an sich. »Hallo«, begrüßte ich sie, »hat dich etwas geärgert? Du siehst so wütend aus.« Sie schaute mich einige Sekunden lang an, so als müßte sie überlegen, ob und wie sie es mir erzählen sollte. Dann sagte sie: »Ich habe mich mit einer Klassenkameradin gestritten.« »Aha, und warum?« »Sie meinte ich wäre schuld an ihrer Erkältung, weil ich sie angeblich immer so böse ansehe. Allein mein Blick würde sie schon krank machen. Und dann hat sie noch ein paar andere Dinge gesagt.« »Was für Dinge?« Sie schaute mich überrascht an. »Warum willst du soviel darüber wissen?« fragte sie. Sie dachte wohl, ich würde nur aus Neugier fragen und nicht, um sie zu verstehen. »Damit ich mir besser vorstellen kann, was da zwischen euch passiert ist. Du hast mir ja auch mit der Arbeit geholfen und jetzt würde ich dir gern helfen, denn vieles kann man wesentlich leichter ertragen, wenn man mal mit jemandem darüber spricht.« Sie nickte. »Dann hat sie noch gesagt, ich wäre sowieso eine Streberin und es sei kein Wunder, daß ich keine Freunde hätte. Mit so einem Blick wie ich ihn hätte, könnte man mich nur hassen.« »Das stimmt überhaupt nicht«, sagte ich mit Nachdruck, »ich finde deinen Blick in Ordnung.« »Ehrlich? Hast du keine Angst vor ihm?« fragte sie überrascht. »Nein. Wenn du willst, kannst du es gerne testen«, erklärte ich wagemutig, wobei ich selbst über meinen Vorschlag überrascht war. »Lieber nicht«, sagte sie, »ich will nicht, daß du Angst vor mir hast.« »Ich hab’ keine Angst«, behauptete ich felsenfest, »komm, probier’s aus!« »Bist du sicher, daß du das willst? Ich möchte dir echt nicht wehtun.« »Keine Sorge, das tust du nicht. Ich übernehme die volle Verantwortung dafür. Also, leg los.« »Na gut.« Sie schaute mir jetzt direkt in die Augen, ihr Blick verfinsterte sich noch mehr und das Dämonische, das darin lag, wurde immer stärker und bedrohlicher. Wir standen am Rand der Pausenhalle und dauernd gingen Leute an uns vorbei, aber ich nahm das plötzlich gar nicht mehr wahr, die Umgebung verschwomm zusehens, wurde immer dunkler und der Kriechstrom, den ich immer bei einem solchen Blick von ihr gespürt hatte, nahm beängstigend zu. Ich spürte, wie mir die Angst beklemmend in den Nacken kroch, wußte auf einmal nicht mehr, wo ich war und was ich hier sollte, sondern sah nur noch die angsterregende Dunkelheit vor mir, die mir vorkam wie ein unendlich tiefes, schwarzes Meer. Trotzdem sah ich noch irgendwo in der Ferne ein kleines Licht. Und urplötzlich hatte ich das Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füssen weggerissen und ich würde fallen. Ich fiel und fiel und fiel, das Licht verschwand, und ich fiel immer steiler, immer schneller genau auf dieses riesige schwarze Meer mit seiner unermeßlichen Tiefe zu, dessen Wellen nach mir zu greifen schienen und mich verschlingen wollten. Das war zuviel, ich würde ertrinken und nichts konnte mich mehr retten. Und als mich jetzt auch noch etwas eiskalt zu schütteln anfing, wollte ich nur noch schreien. »Hallo?« hörte ich eine mir bekannte Stimme sagen. Sofort verschwand die Dunkelheit, und mir wurde warm ums Herz. Ruckartig fand ich mich in der Pausenhalle wieder und die Besitzerin der Stimme stand noch immer vor mir. Sie hatte ihren Blick abgewandt und schaute mich jetzt wieder an, mit einem Blick, der nichts Dämonisches mehr an sich hatte, sondern nur noch Besorgnis ausdrückte. »Geht es wieder?« fragte sie. »Ja, geht... « murmelte ich. »Siehst du, ich habe es schon geahnt. Du hast auch Angst vor meinem Blick« sagte sie betrübt, schaute in eine andere Richtung und wollte schon weitergehen, aber da hielt ich sie zurück. »Nein, nein, warte bitte!« »Was ist denn?« »Könntest du das nochmal machen?« Die Überraschung, die jetzt in ihrem Gesicht geschrieben stand, sprach Bände. »Ehrlich? Du willst nochmal meinen Blick über dich ergehen lassen?« »Ja, das will ich«, bekräftigte ich, selbst verwundert über den Mut, den ich plötzlich wieder hatte. Das Erlebnis mit ihrem Blick war so angsterregend gewesen wie ein Albtraum, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, es schaffen zu können. Es war seltsam, ich hatte genausoviel Angst gehabt, wie ich jetzt Mut hatte, obwohl ich mir den jetzt nicht erklären konnte, und damit hatte ich die sechste Seite der sieben Seiten der Seltsamkeiten entdeckt: Angstmut. »Aber du hast doch gesehen, was passiert ist. Willst du das wirklich nochmal durchmachen?« fragte sie mich, immer noch verwundert. »Ja. Ich glaube, jetzt schaffe ich es. Vorher wußte ich ja nicht, wie dein Blick ist, aber jetzt weiß ich es. Und ich glaube, wenn ich mich besser konzentriere, dann passiert es mir nicht nochmal, daß ich Panik kriege. Bitte lass es mich nochmal probieren, ich würde diesen Test echt gern bestehen«. Ein paar Sekunden lang zögerte sie, bevor sie antwortete: »Also gut, aber nur noch dieses eine Mal, mehr möchte ich dir heute echt nicht zumuten.« Sie schaute mir wieder in die Augen, und abermals verfinsterte sich ihr Blick und die Dämonie in ihm trat immer deutlicher hervor. Wie auch beim ersten Mal verschwomm nach einer Weile die Umgebung, wurde immer dunkler und schließlich schwarz, und das bedrohliche Meer mit seiner riesigen Tiefe lag wieder vor mir. Ich hielt nach dem kleinen Licht Ausschau und fand es tatsächlich wieder. Irgendwie verlieh es mir eine gewisse Zuversicht, praktisch ein Urvertrauen. Deshalb nahm ich mir vor, mich immer auf dieses Licht zu konzentrieren, egal was passieren würde. Da geschah es wieder, ich verlor den Boden unter den Füßen und fiel. Aber ich schaute nicht nach unten, sondern immer nur zu diesem Licht, was irgendwo in weiter Ferne geradeaus vor mir schimmerte. Ich fiel und fiel und fiel, fühlte wie die Angst hervorkommen wollte und der Kriechstrom stärker wurde, aber behielt das Licht immer im Auge. Und es verschwand nicht, im Gegenteil, es kam langsam aber sicher näher. Dann bemerkte ich, daß ich auf einmal nicht mehr nach unten fiel, sondern nach vorn, direkt auf dieses Licht zu. Plötzlich fühlte ich keine Angst mehr, auch der Kriechstrom war verschwunden. Ich wußte genau, diesem Licht war ich willkommen, es würde mich davor bewahren in das dunkle Meer zu stürzen. Also breitete ich meine Arme aus, um es so zu begrüßen. »Hoppla« hörte ich überrascht eine Stimme sagen, und in dem Moment war alles verschwunden, ich fand mich wieder in der Pausenhalle und vor mir stand diejenige, die mir eben noch tief in die Augen gesehen hatte. Und sie lächelte! »Was ist los?« fragte ich verwirrt. »Du warst gerade dabei, mich zu umarmen«, erklärte sie. »Oh, entschuldige!« sagte ich, leicht peinlich berührt. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, gab sie zurück, »das war das erste Mal, das sich jemand freiwillig meinem Blick ausgeliefert hat und dabei so glücklich aussah. Hattest du wirklich keine Angst?« fragte sie. »Nur noch ein bißchen«, gab ich zu, »aber ich habe mich immer auf das Licht konzentriert und dann war alles besser.« »Was für ein Licht?« Ich erklärte ihr, was ich erlebt hatte, und in ihrem Gesicht spiegelten sich Staunen und Neugier wieder, so wie wenn man einem Kind zum ersten Mal die Geschichte vom Weihnachtsmann erzählt. »Toll«, sagte sie danach, »du hast es wirklich geschafft! Ich bin echt froh darüber! Also, Herr Kandidat, Sie haben alle 1000 Punkte. Was kommt als nächstes?« fragte sie ein bisschen verschmitzt. »Ich gebe dir am Montag mal was aus, wie wär’s damit?« »Warum mir? Du hast den Test doch bestanden!« »Na gut, dann gebe ich uns beiden was aus. Mir, weil ich den Test bestanden habe und dir, weil du mir die Erlaubnis gegeben hast. Einverstanden?« »Klaro«, antwortete sie, und ihr Lächeln überstrahlte den grauen und verregneten Tag bis in die letzten Winkel.
|
|