Überraschung an der Tür
Es war irgendwann im Spätsommer, das Wetter wußte nicht, ob es sich zwischen Regen oder Sonnenschein entscheiden sollte und ebenso chaotisch war für Tobias, von Beruf Programmierer in einer mittelständischen Firma, der ganze Tag verlaufen. Sein Kollege lag mit einer Grippe im Bett und er hatte sein Bestes getan, um auch dessen Projekte zu betreuen, aber das war so viel, daß er praktisch die ganze Zeit nur am Hin- und Herspringen gewesen war und nichts richtig anfangen, geschweige denn zu Ende bringen konnte. Abends war er dann ziemlich erschöpft, fragte sich aber, was um Himmelswillen er eigentlich den ganzen Tag über gemacht hatte. Glücklicherweise kam nun das Wochenende. Während er im verregneten Grau in Grau der Straßen nach Hause fuhr, überlegte er, ob er sich einigeln und keinen Schritt mehr vor die Tür machen oder aber aktiv gegen die bleierne Schwere, das dumpfe Gefühl der Trauer, das sich in ihm breitmachte, angehen sollte. Vielleicht sollte er doch mal ins Solarium gehen.
Als er daheim vor seiner Tür stand, öffnete er gleich den Briefkasten. In der Hauptsache war wieder nur Werbung bei ihm gelandet, aber es war auch eine Postkarte dabei, von Michael und Anna, die sich gerade in der fernen und sonnigen Karibik den Bauchnabel von der Sonne bescheinen ließen. Tobias seufzte, wie gerne wäre er jetzt auch dort gewesen und hätte diesen unerfreulichen Tag vergessen können. Er ging in die Wohnung und befreite sich erstmal von seiner nassen Jacke, der feuchten Hose und den wassertriefenden Schuhen. Nach dem Grundsatz wenn schon Wasser, dann richtig, setzte er Teewasser auf und ließ sich ein warmes Bad ein. Anschließend ging er in die Küche zurück, machte sich einen Pfefferminztee, spazierte ins Bad, stellte ihn neben die Wanne und ließ sich wohlig in den Schaum sinken. Während er so dalag und sich entspannte, kam ihm die Postkarte von vorhin wieder in den Sinn, die einen schönen langen Sandstrand mit Palmen und kristallklarem Wasser gezeigt hatte. Tobias fragte sich, was er wohl erleben würde, wenn er sich jetzt genau dort wäre, und plötzlich begann er zu träumen. In seinem Traum war der Sandstrand unendlich und menschenleer, leises Meeresrauschen war zu hören und nachdem er den Blick auf das ruhige Meer und den blauen Himmel, in dem nur ein paar kleine weiße Wolken zu sehen waren, genossen hatte, suchte er sich einen Stein, warf ihn ins Meer und beobachtete, wie er platschend im seichten Wasser versank. Er wollte sich einen neuen suchen, um nochmal etwas weiter zu werfen, da sah er, daß jemand winkend und lachend auf ihn zugelaufen kam, und nach einer Weile konnte Tobias auch erkennen, wer es war: Seine Traumfrau.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen in der Firma, deren Traumfrau immer noch eine blonde Löwenmähne und möglichst große Oberweite haben mußte, war für ihn eher das unscheinbarere Mädchen von nebenan seine Favoritin. Er stellte sich vor, daß sie dunkle, halblange Haare hatte, eine normale Figur, kleine Busen, kurze Fingernägel und möglichst viel Natürlichkeit, also wenig bis gar keine Kosmetik benutzte. Und genauso eine Frau stand jetzt vor ihm. »Hallo Tobias«, sagte sie, »ich freue mich so, daß du da bist.« Sie umarmten sich und gaben sich einen zärtlichen Kuß zur Begrüßung. »Ich habe auch wieder unseren Ball mitgebracht«, verkündete seine Traumfrau anschließend, wobei sie den Ball, den sie unter einem Arm getragen hatte, in die Hand nahm, »wollen wir sofort loslegen?« Tobias war einverstanden. Mit diesem Ball hatte es eine besondere Bewandtnis, er war in der Phantasie von ihm und ihr kein gewöhnlicher Ball mit Luft als Inhalt, sondern ihn ihm wohnten die Ballonier, winzig kleine Wesen, die vollständig aus Ballonin bestanden, einem Stoff, der so leicht war wie Luft. Sie verbrachten ihr ganzes Leben im Schwebezustand und vorzugsweise in verdichteter Luft, in der sie sich ausgezeichnet bewegen konnten. Sie liebten Bewegung, füchteten aber das Wasser, weil sie in der Angst lebten, es könnte in ihren Ball eindringen und sie ertränken. Aus diesem Grund hatten Tobias und seine Traumfrau eine Regel ausgemacht: Wenn sie den Ball nach vorn schossen und er auf dem Sand landete, konnten sie ganz gemütlich auf ihn zuspazieren, landete er dagegen im Wasser, mußten sie ganz schnell hinterherlaufen und ihn retten, und je nachdem, wer nach dem Strandspaziergang die Ballonier am häufigsten gerettet hatte, wurde zum Helden des Tages erklärt.
Tobias liebte diese Strandspaziergänge und unterhielt sich mit seiner Traumfrau nicht selten über philosophische Themen, aber er sprach mit ihr auch über seinen Alltag und daß er sie so gern auch mal in der Wirklichkeit treffen würde. Das war nämlich bisher leider noch nie passiert. Obwohl Tobias mittlerweile 30 Jahre alt war, hatte er mit Frauen und ganz besonders in der Liebe noch kein Glück gehabt. Er hatte zwar einige Freundinnen, doch diese wollten nur seine Freundschaft, mehr nicht. Wannimmer er eine Frau kennengelernt hatte, die ihm gefiel, mußte er seine Hoffnungen früher oder später begraben, weil sie ihn entweder nur ausgenutzt hatte, oder noch nicht über ihren Ex-Liebhaber hinweg war, utopische Vorstellungen von der Liebe hatte oder letztendlich in einer ganz anderen Welt lebte, die mit der Realität nicht besonders übereinstimmte. So gern hätte er auch nur einmal Glück in der Liebe gehabt, wenigstens ein einziges Mal, dann wäre er schon glücklich gewesen, doch alles was ihm blieb, war weiter zu hoffen und davon zu träumen.
Ein Zittern brachte Tobias in die Wirklichkeit zurück. Es war sein eigenes Zittern, denn mittlerweile hatte sich das Wasser abgekühlt. Er stieg aus der Badewanne und zog sich an. Der Tee war inzwischen kalt geworden, deshalb beschloß er, sich nochmal einen neuen einzugießen. Er stellte fest, daß er sich jetzt etwas besser fühlte, und nun wollte er mal nachsehen, ob er elektronische Post bekommen hatte. Da er beruflich mit Computern zu tun hatte, stand bei ihm daheim auch eine Computeranlage, die mit ihrer Leistungsfähigkeit und den ganzen zusätzlichen Geräten das Herz jedes Informatikers höher schlagen lassen konnte. Dementsprechend bot sie viele Möglichkeiten, mit ihr zu arbeiten, und da sich Tobias sehr für das Internet interessierte, verbrachte er viel Zeit mit Webdesign, elektronischer Post, Musik-komposition und, wenn er in der richtigen Stimmung dazu war, sogar Gedichteschreiben. Was Computer und Internet anging, war Tobias ein richtiger Fachmann, und nicht selten wurde er von seinen Kollegen gerade hier um Hilfe oder Tips gebeten, und meistens konnte er helfen, was ihm auch großen Spaß machte.
Er ging in sein Arbeitszimmer, schaltete das Radio an und startete den Computer. SIE HABEN KEINE NACHRICHT ERHALTEN meldete dieser nach einer Weile, denn immer beim Start schaute er automatisch nach, ob elektronische Post angekommen war. Tobias seufzte und entdeckte auf einmal, daß ein Teil seines Schreibtisches, der vor dem Fenster stand, völlig naß war und sich eine Lache darunter gebildet hatte. Offenbar hatte er am Morgen das Fenster nicht richtig geschlossen, der Wind hatte es irgendwann später geöffnet, und es hatte dann munter hereingeregnet, so daß und die Papierunterlage sowie alle seine Notizzettel jetzt naß, wellig und unlesbar geworden waren. Tobias fragte sich, ob sich an diesem Tag alles gegen ihn verschworen hatte und er nicht besser im Bad hätte bleiben sollen, dann machte das Fenster zu und holte sich gleich einen Lappen. Er war gerade dabei, die Wasserlache wegzuwischen, da klingelte es plötzlich an seiner Tür. Auch das noch! Nicht mal in Ruhe wischen kann man heute! Was ist das nur für ein vermurkster Tag, dachte er. Dann öffnete er die Tür, und vor Überraschung blieb ihm die Luft weg.
Dort stand eine junge Frau, die er noch nie gesehen hatte. Sie war etwa so groß wie er, hatte eine normale Figur, halblanges dunkles Haar und ein hübsches Gesicht, das vom Regen noch ganz naß war. Sie trug eine Jeansjacke und einen gelben Haaring, der verhinderte, daß ihr die halblangen Haare ins Gesicht fielen. »Hallo Tobias«, begrüßte sie ihn, und ihre Stimme gefiel ihm auf Anhieb, »ich bin Andria. Entschuldige, daß ich dich so überfalle. Ich wollte eigentlich meine Schwester besuchen, die in deiner Firma arbeitet. Aber sie ist total verschwunden. Und sie sagte mir mal, wenn ich in Not bin, soll ich mich an dich wenden. Könntest Du mir erlauben, heute bei Dir zu übernachten?«+
Tobias wußte nicht, was er mehr war: Überrascht oder fasziniert. Allein schon die Wortwahl von Andria verblüffte ihn total: Könntest Du mir erlauben..., das hatte ihn noch nie eine Frau gefragt. Ohne nachzudenken antwortete er daher: »Ja klar. Komm rein.«
Andria griff nach ihrer Tasche und trat ein. Nachdem sie sich flüchtig umgesehen hatte, sagte sie: »Eine schöne kleine Wohnung hast du hier. Darf ich mal eben kurz in dein Bad? Ich möchte mich nur abtrocknen«. Tobias nickte und zeigte ihr den Weg zu seinem Bad. Nachdem Andria darin verschwunden war, fing er wieder an zu wischen. Er dachte, er könnte sich nun richtig Zeit lassen, denn er hatte noch keine Frau getroffen, die nur kurz ins Bad wollten und dann nicht mindestens eine halbe Stunde brauchten. Aber bei Andria war das ein Irrtum, denn es dauerte keine fünf Minuten, dann war sie wieder da.
»Hallo«, sagte sie fröhlich, »was machst du da?« Tobias war gerade dabei, das nasse Papier wegzuwerfen. »Das Fenster stand seit heute morgen offen es hat hereingeregnet, genau auf dieses Papier. Nun kann ich es nur noch wegwerfen.« »Das tut mir leid. Kann ich dir helfen?« In Tobias breitete sich innerliches Erstaunen aus. Eine Frau, die mir ihre Hilfe anbietet, dachte er, träume ich das nur? »Nein, brauchst du nicht. Ich bin gerade fertig«, antwortete er. Andria nickte. Erst jetzt fiel Tobias auf, daß sie vollkommene Natürlichkeit ausstrahlte. Sie hatte schöne Hände mit kurzen unlackierten Fingernägeln und offenbar keine Ohrringe. Auch ihre Halbschuhe waren flach, also keine Plateausohlen oder Stöckelschuhe, wie er es sonst meistens erlebt hatte. Was für eine Frau, dachte er, sowas sieht man viel zu selten. Das müßte man eigentlich fotografieren, sonst glaubt es einem keiner. »Hast du Lust, mit mir etwas zu essen zu machen?«, fragte sie, »ich habe etwas Obst dabei, das reicht bestimmt für einen kleinen Obstsalat.« »Ja, können wir gern machen«, antwortete Tobias. »Prima! Wo ist bei dir die Küche?« Tobias zeigte in die Richtung. »Danke!« sagte Andria, und ehe er sich's versah, hatte sie auch schon ihre Tasche gepackt und war in der Küche verschwunden. Tobias staunte erneut. Andria hatte sich bei ihm bedankt! Ihr fröhliches »Danke« klang ihm noch in den Ohren, und er fand das unglaublich süß. Sowas hatte er sonst viel zu selten gehört. Als er kurz danach in die Küche kam, hatte Andria schon ihr Obst ausgepackt und war nun dabei, es kleinzuschneiden. Tobias fiel ein, daß er auch noch eine Dose Ananas im Kühlschrank hatte und wollte sie herausholen, aber Andria stand genau davor. Sie bemerkte das jedoch schnell. »Entschuldige, Tobias, ich wollte dir nicht im Weg stehen! Und schon bin ich weg«, sagte sie lächend und schwang sich mit einem kleinen Dreher zur Seite. Für einen Augenblick kam es Tobias vor, als würde sie schweben. Oh Mann, dachte er, wenn sie wüßte, wie süß sowas ist... Er machte die Dose auf. Andria reichte ihm ein Messer, »Hier, ich hoffe, es ist das richtige!« sagte sie ein bißchen schelmisch. »Heute morgen war es das jedenfalls noch«, gab Tobias zurück. Sie lachten beide, und bald danach war alles Obst kleingeschnitten. Andria war dabei sehr schnell und geschickt, und Tobias fragte sich, ob sie das schon immer gern machte. »Achtung, jetzt kommt der große Mischmasch«, kündigte sie an und mixte das Obst zusammen, »hast Du zwei Teller?« Tobias holte zwei Teller aus seinem Schrank, und Andria verteilte das Obst gleichmässig darauf. »Wo wollen wir essen?« fragte sie, »ich glaube, die Küche ist ein bißchen klein zum Sitzen«. »Am besten da, wo am meisten Platz ist«, antwortete Tobias, »vorn am Computertisch wäre es am besten«. »Geht klar« sagte Andria, und kurz darauf saßen sie dort und begannen zu essen. »Tobias, guck mal«, sagte Andria plötzlich. Sie hielt ihre Gabel mit Obst hoch, sagte »Tataaa« und ließ ein Stückchen Petersilie darauf fallen. Dann reichte sie ihm die Gabel hin. »Probier mal bitte«, sagte sie lächelnd. Tobias, völlig überrascht, folgte ihrer Aufforderung nur zu gern. Leider hatte er selbst keine Petersilie oder etwas anderes, was er auf seine Gabel tun konnte. Trotzdem tat er es ihr nach. »Nun mußt Du aber auch zulangen!« sagte er grinsend. »Nichts könnte mich daran hindern«, antwortete Andria und aß von seiner Gabel. Ich wird verrückt, dachte Tobias, sie hat von meiner Gabel gegessen! Wenn ich das jemandem erzähle, glaubt es keiner! Er hätte Andria nur zu gern gesagt, wie sehr er sich darüber freute, aber unterließ es, weil sie ihn nicht deswegen für sonderbar halten sollte. Andria ließ ihre Blicke im Zimmer umherschweifen, während sie aß. Dann fiel ihr Blick auf die Pinnwand. »Tobias, wer ist das da?« fragte sie und zeigte in die Richtung. »Das ist Beate«, gab Tobias zurück, »Unsere Chefsekretärin. Das Foto ist von ihrem 10jährigen Betriebsjubiläum«. »Sieht komisch aus mit so kurzen Haaren«, meinte Andria, »ich würde mir meine Haare nie kürzer als halblang schneiden lassen. Das sieht sonst doch gar nicht mehr weiblich aus.« Tobias fing an, Bauklötzer zu staunen. Andria nahm ihm die Worte direkt aus dem Mund! »Ganz meine Meinung.« Scheinbar gedankenverloren strich sich Andria mit der linken Hand ihr Haar zurück. Tobias begann innerlich zu jubeln. Ist das süß, dachte er, diesen süßen Augenblick werde ich nie vergessen. Plötzlich meldete sich seine innere Stimme. Da sitzt sie, die Frau deiner Träume, sagte sie. Das könnte sie tatsächlich sein, gab Tobias zu, aber ich wette, sie hat schon einen Freund. Wer so aussieht, kann nur vergeben sein. Und sie hat auch garantiert kein Interesse an mir. Tobias entschloß sich, ihre Anwesenheit so lange wie möglich zu genießen, bevor sie wieder gehen würde. Den Rest vom Obstsalat hatte er bald geschafft, und auch Andria war fertig. »Hat er dir geschmeckt?« fragte Andria. »Erstklassig«, antwortete Tobias wahrheitsgemäß. »Jetzt kommt nur noch das Abwaschen. Unterstützt du mich dabei ein bißchen?« Tobias, der als Junggselle gerade diese Tätigkeit gern erstmal auf die lange Bank schob, wollte spontan zustimmen. Er war erstaunt, wie leicht es Andria fiel, ihn zu etwas zu bewegen, selbst wenn er es nicht gern tat. Aber er wollte ihr die Plackerei nicht zumuten und hielt es für besser, es selbst zu erledigen. »Du brauchst nicht abzuwaschen. Ich mache das später schon.« »Ich möchte aber gerne. Dann hast du später auch nicht soviel Arbeit. Darf ich?« Das gibt es doch gar nicht, dachte Tobias, sie denkt tatsächlich an mich. Und sie fragt mich, obwohl sie es gar nicht müßte. Das ist echt unglaublich! Andria schaute ihn so offen und fragend an, das er gar nicht anders konnte und sagte: »Tja, dann laß uns abwaschen«. Tobias legte die Teller in die Spüle und wusch ab, Andria trocknete das Besteck und Geschirr und brachte es in den Schrank zurück. Während sie so beschäftigt waren, fiel ihm zum ersten mal auf, daß sie ihn häufig wie zufällig, fast flüchtig berührte, mal an seinem Arm, dann an seiner Schulter. Zuerst wunderte er sich etwas darüber, dann dachte er: Sicher will sie mir so nur zeigen, daß sie da ist. Als Andria gerade den letzten Teller trocknete, sah sie aus dem Fenster. »Tobias?« »Ja?« »Es hat aufgehört zu regnen. Da hinten geht die Sonne unter.« Sie zeigte in die Richtung. Tobias kam zu ihr und schaute aus dem Fenster. Es war schon ein bißchen dämmrig, aber noch nicht dunkel, und eine friedliche Abendstimmung lag über der Landschaft. »Ja, stimmt«, sagte er. »Würdest Du mit mir nach draußen gehen? Ich würde mir das gern näher ansehen!« Nanu, dachte Tobias, eine Frau, sie sich für Sonnenuntergänge interessiert? »Gern«, antwortete er. Als sie fertig waren, zogen sie ihre Jacken an und gingen auf die Straße. »Hey, das sieht toll aus«, sagte Andria mit spontaner Begeisterung, »schau mal, die Wolke da hinten. Sie sieht aus wie ein Schiff!« Eine Frau mit Phantasie, dachte Tobias, das ist wirklich phänomenal.
Andria hatte recht. Der ganze Himmel hatte sich in einen sonnendurchfluteten Wolkenvorhang in den herrlichsten, warmen Farben verwandelt, und die eine Wolke, die wie ein Segelschiff aussah, zog gemächlich den Horizont entlang. Dort hob sich die Stadtlandschaft wie ein fernes Gebirge empor, dessen Spitzen lange Schatten auf die Straßen und Wege warfen. Vereinzelt war ein leichtes Grillenzirpen zu hören, und einige Vögel vollführten im Schein der untergehenden Sonne noch ein paar letzte Rundflüge. Hier und da waren oberhalb der Wolken auch schon einige Sternen zu sehen, aber noch ließ sich die Nacht Zeit. Paradiesisch, dachte Tobias, richtig zum Verlieben.Andria ging dem Sonnenuntergang entgegen, und Tobias folgte ihr. Sie fragte ihn noch einiges, was er nie erwartet hätte, zum Beispiel welchem Namen er dem Wolkenschiff geben würde oder welche Bezeichnung er für die Farben des Sonnenuntergangs hätte.
»Ein richtig schönes Lichtermeer«, sagte sie und lächelte, »du wohnst echt in einer schönen Gegend, Tobias, wenn du sowas öfter sehen kannst!« Tobias wollte sie schon fragen, wo sie eigentlich herkam, aber da fragte sie plötzlich: »Was ist denn das da, Tobias?« »Das ist nur ein kleiner Teich, der Polderteich. Im Herbst sind manchmal ein paar Enten darauf zu sehen.« »Könnten wir da hingehen?« »Klar.« Dann standen sie davor. Der Teich war nichts Besonderes, auch einen Steg gab es nicht. Tobias befürchtete schon, Andria könnte sich langweilen, da bückte sie sich und warf einen kleinen Stein ins Wasser. »Platsch!« sagte sie und grinste, »das hörte sich lustig an. Wirfst du auch mal?« Tobias warf ebenfalls einen Stein ins Wasser, der etwas größer war. Das dabei entstehende Geräusch hörte sich mehr nach einem Plumpsen statt nach einem Platschen an. Andria lachte. »Klasse, jetzt bin ich wieder dran!« Sie warf einen weiteren, diesmal flachen Stein ins Wasser, der ein paarmal hüpfte. Tobias warf danach noch einen hinein, und als Andria darauf gleich zwei Steine gleichzeitig warf, wollte er es ihr nachtun, suchte sich zwei extra schwere heraus und warf sie, verlor dabei aber das Gleichgewicht und ließ sich nach einigem Gestrauchel ins Gras fallen. Andria lachte noch mehr und ließ sich dann ebenfalls neben ihn fallen. »Entschuldige«, sagte sie, »ich wollte dich nicht auslachen. Es sah aber eben zu komisch aus, wie du umgefallen bist!« »Kann ich mir vorstellen«, gab Tobias zurück und mußte auf einmal auch lachen. Das Umfallen war ihm plötzlich gar nicht mehr peinlich. Wie macht Andria das nur, fragte er sich. Kurz danach gingen sie wieder zurück und beschlossen, erstmal etwas zu trinken. Andria schien überhaupt nicht müde zu sein. Sie erzählte Tobias, daß sie erst einige Zeit gebraucht hatte, bis sie das Haus fand, in dem er wohnte. Zwar hatte sie einen Stadtplan dabei gehabt, der aber älter war und die Orientierung nicht gerade wesentlich erleichterte. Es war noch nicht spät. Tobias hatte plötzlich eine Idee. »Wie wäre es mit einer Partie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht?« Andria nickte spontan. »Es ist allerdings schon eine Ewigkeit her, seitdem ich das gespielt habe, und das meiste habe ich davon wieder vergessen«, gestand sie. »Wir haben es zu Hause ziemlich selten gespielt, weißt Du. Es wäre schön, wenn Du mir nochmal ganz kurz die Regeln erklärst, damit ich alles richtig mache«. »Kein Problem!« Tobias holte das Spiel aus seinem Regal, packte es aus, stellte alles auf dem Tisch und zeigte und erklärte ihr dann die wichtigsten Spielregeln. Andria hatte sie sehr schnell begriffen und kurz danach fingen sie an. »Ich wette, ich bin nicht gut darin und du wirst mich haushoch schlagen«, meinte sie. »Abwarten«, sagte Tobias, »Du hast bestimmt Anfängerglück«. Sie spielten eine Runde, dann noch eine Runde und danach noch eine. Andria war anzumerken, daß ihr dieses Spiel Spaß machte. Immer wenn eine ihrer Figuren an einer von Tobias vorbeizog, grüßte sie diese höflich oder sagte, sie hätte es eilig und müßte eben mal schnell vorbei. Und wenn sie eine seiner Figuren aus dem Spiel warf, entschuldigte sie sich dafür. So gewann sie die erste Runde, dann die zweite und nachdem sie auch noch die dritte Runde gewonnen hatte, kratzte sich Tobias am Kopf und gab etwas lakonisch zu: »Ich glaube, es ist eindeutig, du hast wohl einfach sehr viel Anfängerglück und ich sehr viel Gewohnheitspech. Du bist einwandfrei die Siegerin«. Andrias Antwort darauf riß ihn erneut fast vom Stuhl: »Es tut mir leid, wenn ich heute mehr Glück hatte als du. Ich möchte aber nicht, daß Du traurig bist. Hiermit erkläre ich dich zu meinem Mitsieger. Verloren haben nur deine Würfel und deine Figuren und zur Strafe bekommen sie jetzt Hausarrest!« Sie nahm kurzerhand seine Figuren, stopfte sie in aller Eile in die Schachtel und schob den Deckel darüber. Tobias konnte nicht anders, er mußte lachen. Schon wieder hatte Andria seine Traurigkeit völlig vertrieben und es tat ihm keine Spur mehr leid, daß er so oft verloren hatte. Abermals fragte er sich unwillkürlich, wie Andria das wohl machte, und ob sie immer so viel Herzlichkeit und Mitgefühl für jemanden hatte oder nicht. Eins stand für ihn jedenfalls fest: Er fand es unheimlich beeindruckend. Sie muß zaubern können, dachte er. Gib zu, sie hat dich schon verzaubert, meinte seine innere Stimme dazu.Wenn sie es kann, dann kann sie es ohne Zauberstab, gestand Tobias ein. Sie räumten das Spiel wieder ein. Nachdem es Tobias wieder im Schrank verstaut hatte, griff er zur Fernsehzeitung. »Hey, heute zeigen sie den Film ALLES REINER ZUFALL, hättest Du Lust, ihn anzusehen?« fragte er sie, wobei er schon damit rechnete, daß sie gelangeweilt ablehnen würde. »Ja gern!« antwortete sie. Tobias schaltete den Fernseher ein und holte noch Erdnüsse aus dem Schrank, aber Andria nahm nichts davon, sie schien der Film mehr zu interessieren. Es handelte sich dabei um eine romantische Komödie, in der ein Fernsehtechniker alles für streng planbar hielt, aber dann eine Frau traf, deren Fernseher gar nicht logisch funktionierte, sondern nur für ihn hörbar zu sprechen begann und ihm Tips gab, wie er seine äußerst attraktive und zufällig ledige Kundin näher kennenlernen konnte.In der ersten Werbepause ging Andria auf die Toilette, und in der zweiten rechnete Tobias auch damit, daß sie aufstehen würde. Stattdessen fragte sie: »Tobias, kann ich ein bißchen näher zu dir kommen?« Seltsame Frage, dachte er, aber antwortete ohne zu zögern mit ja. Andria setze sich nun genau neben ihn und legte ihren Arm hinter seine Schulter. Tobias tat es ihr nach. Der Film fing wieder an, und während er weiterlief, spürte Tobias auf einmal Andrias Kopf auf seiner Schulter. Das ist zu schön, um wahr zu sein, dachte er, ich glaube, ich träume. Er bekam den Film gar nicht mehr richtig mit, so sehr genoß er diesen Augenblick. Das muß ich mir gut aufheben, dachte er, sowas kommt sicher nicht wieder. Gegen Ende der Geschichte kam noch eine kurze Bettszene, die Tobias eher langweilig fand. Er war der Meinung, daß die Schauspieler durch sowas nur auffallen und im Gespräch bleiben wollten, und es wäre besser gewesen, es bei einer kurzen Andeutung zu lassen.Dann war der Film zu Ende. Andria lächelte Tobias plötzlich an, und sagte schließlich: »Tobias, entschuldige bitte, daß ich das frage, vielleicht ist es ein Fehler, aber ich möchte es trotzdem sagen: Du musst wissen, daß ich dich echt sehr gern habe, und wenn du Sex von mir haben möchtest, dann kannst du es mir ruhig sagen, ich werde ihn dir gern geben!« Sie sagte das so sachlich und natürlich, daß Tobias innerlich beinahe vor Staunen umgefallen wäre. Hatte er richtig gehört? Wollte sie das wirklich? Greif zu, rief seine innere Stimme, so eine Gelegenheit kriegst du nie wieder! Aber Tobias wollte lieber auf seinen Verstand hören. Er dachte, er könnte sich wegen seiner Unerfahrenheit zu schnell blamieren, und außerdem wußte er noch gar nicht, ob Andria überhaupt noch frei war und er einfach nur einen glücklichen Moment bei ihr erwischt hatte, den er, wenn er ihn ausnutzte, möglicherweise ganz schnell bereuen könnte. Deshalb sagte er: »Danke für das Angebot, das ist nett von dir. Aber ich möchte den Tag lieber so ausklingen lassen.« Andria schien keineswegs enttäuscht zu sein. »Ist in Ordnung, es war auch nur ein Vorschlag, nicht daß du denkst, ich wollte dir was vorenthalten.« »Danke. Übrigens habe ich dich auch sehr gern«. Tobias fragte sich, ob es nicht ein Fehler war, das zuzugeben. Sie könnte es vielleicht als Anmache verstehen. Andria lächelte, und für einen kurzen Augenblick hatte Tobias den Eindruck, sie strahlte sogar. »Danke, Tobias.« Es war bereits spät und stockdunkel geworden. Tobias stand auf.»Du kannst in meinem Bett schlafen. Ich schlafe dann hier auf dem Sofa«, bot er an. »Ehrlich gesagt würde ich lieber auf dem Sofa schlafen. Es wäre nicht fair, wenn ich dich aus deinem Bett vertreibe.« Sie ist unglaublich süß, dachte Tobias, ein Geschenk des Himmels. Wen immer sie als Freund hat, der hat es unglaublich gut bei ihr. »Gut, dann machen wir es so. Warte, ich hole Bettzeug.« Andria ging ins Bad, und Tobias bereite das Sofa zum Übernachten vor. Er war gerade fertig, da kam Andria wieder aus dem Bad, schon im Schlafanzug. Ein Engel steht vor mir, schoß es Tobias durch den Kopf, als er sie sah, nur die Flügel fehlen noch. »Vielen Dank, daß Du mir das Sofa gemacht hast, Tobias. Das Bad ist jetzt frei.« »Gern geschehen.« Tobias ging ins Bad. Als er fertig war, fühlte er sich versucht, zu Andria zu gehen und ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Lieber nicht, dachte er, ich darf mich nicht zu sehr an sie gewöhnen, morgen wird sie sowieso gehen. »Gute Nacht, Andria«, sagte er ihr deshalb im Vorbeigehen. »Gute Nacht, Tobias«, höre er von Andria. Dann war er in seinem Schlafzimmer angekommen. Ein schöner Traum, dachte er, aber leider nur ein Traum. Dann legte er sich hin und schlief ein.
|
|