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Das Tribunal

»Er kommt zu sich«, hörte Tobias eine weibliche Stimme sagen. Er blinzelte, aber noch konnte er nichts erkennen.
»Kannst du mich verstehen, Mensch?«, fragte eine andere weibliche Stimme.
»Ja«, antwortete er verwirrt.
»Dann steh' auf«, sagte eine dritte Stimme, ebenfalls weiblich.
Erst jetzt erkannte Tobias, daß er auf dem Boden lag. Er stand auf. Anfangs hatte er noch ein wenig Probleme, das Gleichgewicht zu halten, aber dann hatte er es doch geschafft. Jetzt bemerkte er, daß er noch immer seinen Schlafanzug trug. Verwundert sah er drei Gestalten vor sich stehen, die lange, weiße Kapuzengewänder trugen. Nur um ihn herum und diese Gestalten war es hell, ansonsten war der ganze Raum komplett dunkel. Das Licht schien von irgendwo sehr weit oben herzukommen, aber er konnte die Lichtquelle nicht erkennen.
»Wer... wer sind Sie?« stammelte er.
»Wir sind das Tribunal. Andria hat uns mitgeteilt, daß du deine Entscheidung geändert hast. Wir müssen jetzt prüfen, ob du es ehrlich meinst oder nicht und die Bedingungen optimal sind«, erklärte die Gestalt, die in der Mitte stand. Ihre Stimme wirkte weder streng noch bedrohlich, dafür aber völlig emotionslos, regelrecht sachlich und kühl.
»Was denn für Bedingungen?«
»Das wirst du noch erfahren. Wir werden jetzt in Ruhe darüber beraten. Du wirst so lange in einer für dich reservierten Zelle warten. Ich werde vorausgehen, folge mir.«
Die drei Gestalten, deren Gesichter Tobias beim besten Willen nicht erkennen konnte, kamen auf ihn zu. Als die mittlere an ihm vorbei war, machten ihm die beiden anderen ein Zeichen, daß er ihr folgen sollte. Sie selbst gingen hinterher. Tobias kam sich ein bißchen vor wie ein Gefangener, der auf keinen Fall entkommen sollte. Sie gingen durch einen längeren Gang, der eher dunkel beleuchtet war, und kamen in einen Raum mit einer Gitterzelle, dessen spärliches Licht einen seltsamen bläulichen Farbton hatte. Jetzt öffnete die mittlere Gestalt die Zelle und ging hinein. Nachdem Tobias ihr gefolgt war, sagte sie ihm: »Hier wirst du warten, bis wir dich wieder abholen«. Damit ging sie wieder hinaus, schloß die Zelle hinter sich zu und verließ den Raum mit den beiden anderen Gestalten wieder.
Tobias sah sich um. Die Zelle enthielt offenbar keine Möbel, kein Bett, keinen Tisch, noch nicht mal einen Stuhl. Er seufzte, setzte sich in eine Ecke, zog die Beine an und legte den Kopf auf seine Arme. Gerade als er darüber nachgrübelte, was er verbrochen hatte, hörte er eine altbekannte Stimme.
»Tobias?«
Er sah auf und erschrak leicht, denn vor ihm saß noch eine Kapuzengestalt, die er beim Eintritt in die Zelle gar nicht bemerkt hatte. Sie schien aber etwas kleiner zu sein als die vorher.
»Oh, entschuldige, ich habe ja noch die Kapuze auf.«
Sie nahm sie ab, und jetzt konnte Tobias auch erkennen, um wen es sich handelte.
Es war Andria.

»Andria!« sagte Tobias.
»Ja, ich bin es«, bestätigte Andria und lächelte.
»Du bist da!« stellte er fest, und ein Lächeln der Erleichterung machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Ja, ich bin wie du in dieser Zelle.«
»Du bist da!« sagte Tobias.
»Warum wiederholst du das?« fragte sie, ohne ihr Lächeln zu verlieren.
»Ich kann es gar nicht glauben, daß du da bist!« antwortete Tobias.
Andria rückte etwas näher an ihn heran und hielt ihm dann ihre Hand hin.
»Faß mich an, dann weißt du, daß ich wirklich hier bin.«
Tobias nahm ihre Hand. Es war noch immer dieselbe Hand, wie er sie vom Besuch am Freitag her kannte, mit denselben, schlanken Fingern, den kurzen, schlichten Fingernägeln und der samtweichen Haut. Es tat gut, sie zu berühren.
- Tobias, mach jetzt nicht denselben Fehler wie damals, hörte er seine innere Stimme sagen.
- Keine Sorge, diesmal mache ich es richtig, dachte er. Und statt ihr die Hand zurückzugeben, begann er sie zu streicheln.
Andria schmunzelte. »Warum machst du das?« fragte sie.
»Du hast so schöne, weiche Haut« gab Tobias ganz offen zu, »und außerdem brauchst du ja Energie, oder?«
»Stimmt! Danke, das ist lieb von dir!« sagte sie.
Tobias spürte ein Glücksgefühl, wie er es schon seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte. Zum ersten Mal hatte er den Eindruck, genau das richtige zur richtigen Zeit zu tun. Er wünschte sich, daß es nie aufhören würde. Aber trotzdem beschäftigte ihn eine Frage.
»Andria, was ist dieses Tribunal?«
»Dazu muß ich dir erst vorher einiges erklären« antwortete Andria, die jetzt ernster wirkte, »sonst versteht man es nicht. Es ist vielleicht ein bißchen kompliziert, wenn du also etwas nicht sofort verstehst, dann frage mich bitte. Als ich mich dazu entschlossen hatte, auf die Erde zu kommen, mußte ich mich ja körperlich verändern, also ein menschenähnliches Aussehen annehmen. Deshalb mußte ich meinen Entschluß der Auswanderungskommission mitteilen, die dann der Umwandlungsabteilung den Auftrag erteilt, mir dieses Aussehen zu geben. Wir nennen es Homoforming, es ist ein langer und komplizierter Prozeß, der sehr viel Energie verbraucht, und bei uns ist es so, daß der Energieverbrauch eine große Rolle spielt. Wir versuchen von Anfang an immer, den größtmöglichen Nutzen aus dem Verbrauch von Energie zu ziehen. Das ist deswegen so, weil zum Überleben auf diesem Planeten alle daran beteiligten Einheiten optimal zusammen funktionieren müssen, und so wird jede als eine Funktion betrachtet - auch die Liebe. Und aus diesem Grund muß ein Vorgang, der eine Menge Energie verbraucht, immer erst gemeldet werden, damit unsere Energieverteilung nicht durcheinander kommt. Das Homoforming geht jedenfalls nur ein einziges Mal, wenn man es also einmal gemacht hat, muß man so bleiben, wie man ist. Wenn man jedoch umgewandelt ist, aber sein Vorhaben nicht verwirklichen konnte, gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder man findet sich damit ab, und lebt trotzdem weiter in der anderen Welt, oder man läßt sich zurücksetzen.«
»Was heißt zurücksetzen?« fragte Tobias.
»Beim Zurücksetzen wird die ganze Person auf 0 gesetzt, also praktisch wieder zurück zum Anfangsstadium gebracht. Man erhält auf diese Weise ein neues Ich, das eine Sicherheitssperre enthält, damit man nicht noch einmal den Wunsch nach Auswanderung bekommt«, erklärte Andria.
»Das ist ja grauenhaft«, meinte Tobias dazu.
Andria zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht kommt es dir schlimm vor, aber für die zurückgesetzte Person hat es den Vorteil, daß sie in unserer Welt weiterleben kann, ohne sehnsüchtige Erinnerungen zu haben und sich dauernd vorwerfen zu müssen, etwas falsch gemacht zu haben.«
»Ich will nicht, daß sie dich zurücksetzen, Andria«, sagte Tobias mit Nachdruck in der Stimme, »dafür bist du viel zu einmalig und wertvoll. Sag' mir, wie ich das verhindern kann, und ich werde es tun.«
»Du bist so lieb, danke« gab Andria zurück und hatte plötzlich wieder dieses sanfte Lächeln auf dem Gesicht, »aber da brauchst du keine Angst zu haben. Es wird ja niemand zur Zurücksetzung gezwungen, es bleibt also jedem selbst überlassen, für welche der beiden Möglichkeiten er sich entscheidet. Das Tribunal entscheidet etwas anderes.«
»Was denn?«
»Das Tribunal entscheidet darüber, ob wir weiter zusammen sein können oder nicht. Es wurde für die Fälle geschaffen, wenn jemand außerhalb unserer Welt mit jemanden, der in unserer Welt lebt, zusammensein möchte. Dann ist die Person aus unserer Welt auf die Person aus der anderen Welt angewiesen, und damit sie sichergehen können, daß es beide ernst meinen und einer beim anderen gut aufgehoben ist, machen sie diese Prüfung.«
»Ich versehe. Aber wie prüfen sie das eigentlich?«
»Sie werden sich eine deiner Schwächen heraussuchen und dich damit konfrontieren.«
Tobias überlegte, welche Schwäche das sein konnte.
»Ich will dich nicht schon wieder verlieren, Andria«, gab er offen zu, »und wenn das Tribunal entscheidet, daß wir uns trennen müssen, wäre ich ewig unglücklich.«
»Das ist total lieb von Dir, Tobias« sagte Andria und lächelte ihn wieder an, »ich will auf jeden Fall auch bei dir bleiben. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Alles, was du tun mußt, ist mir zu vertrauen. Dann hast du die Prüfung schon so gut wie bestanden.«
»Ich war ein Riesentrottel, daß ich dich weggeschickt habe«, gestand Tobias, »wenn ich es nicht getan hätte, dann hätte ich uns dies hier erspart.«
»Das konntest du ja nicht ahnen«, beruhigte ihn Andria, »außerdem finde ich es schön, daß wir beide jetzt hier sind und es zusammen durchstehen können.«
- Sie muß ein Engel sein, sagte die innere Stimme von Tobias, nur Engel können so sprechen.
- Ich finde sie total wunderbar, antwortete er ihr, am liebsten würde ich immer hier sitzen und ihre Hand streicheln, damit sie nie mehr unter zu wenig Energie leidet.
Plötzlich fiel ihm eine Frage dazu ein.
»Andria, ich habe eins noch nicht verstanden: Du hast mir gesagt, bei muß die Energie gleichmäßig verteilt werden, aber warum? Gibt es bei euch bestimmte Bereiche, wo die Ernergieverteilung nicht richtig klappt?«
»Nein, die funktioniert schon überall, wir erhalten die Energie nur mit sehr hohen Schwankungen, und das ist deshalb so, weil wir andere Umweltbedingungen haben als bei euch auf der Erde. Komm' mit, ich zeige es dir!«
Sie stand auf und ging zu einer Wand, die als einzigste ein kleines, unscheinbares Fenster hatte, das Tobias erst jetzt sah. Er folgte ihr und bemerkte jetzt erst das ständige Flackern des hereinfallenden Lichtes, so als würde jemand Lichtsignale senden.
»Hier, schau' mal durch«, sagte Andria.
Was Tobias, der nun hinter ihr stand, dort draußen sah, überraschte ihn. Der Himmel war pechschwarz und wolkenverhangen und ständig zuckten mehrere Blitze gleichzeitig auf die scheinbar kahle Erde, dazu regnete es und der Wind tobte orkanartig über die Landschaft.
»Das erinnert mich an den schlimmsten Gewittersturm, den ich mal erlebt habe«, gab er zu.
»So ist es bei uns ständig«, erklärte Andria, »das ist unser normales Wetter, und es ist noch gut. Schlimm wird es erst dann, wenn die Tornados kommen, denn die reißen so gut wie alles mit sich, was nicht fest mit dem Boden verbunden ist.«
»Das ist echt schlimm«, meinte Tobias dazu.
»Es hat aber auch sein Gutes«, fuhr Andria fort, »die Energie der Blitze fangen wir ein und nutzen sie. Ohne sie würden wir überhaupt nicht existieren. Und durch das Regenwasser sind viele Flüsse entstanden, deren Energie wir durch Wasserkraftwerke ebenfalls nutzen. Außerdem brauchen es unsere Tiere und Pflanzen. Da wir kein Sonnenlicht bekommen, haben sie sich weitgehend im Meer und in den Höhlen entwickelt. Es ist natürlich längst nicht so viel wie bei euch auf der Erde, aber wir freuen uns darüber, daß wir sie haben.«
Tobias stand immer noch dicht hinter Andria und konnte ihr direkt über die Schulter sehen. Während ihrer Erklärungen kam ihm ein Gedanke:
- Am liebsten würde ich sie jetzt umarmen.
- Dann tu' es doch, forderte ihn seine innere Stimme auf.
- Das kann ich nicht.
- Und wieso nicht?
- Ich weiß nicht, ob sie das mag.
- Sie hat sich doch auch über Deine Berührung mit der Hand gefreut.
- Ja, aber das hier ist etwas anderes.
»Sie sind faszinierend«, sagte er plötzlich.
Andria war verwirrt.
»Was meinst du? Unsere Tiere? Du hast sie doch noch gar nicht gesehen. Oder meinst du etwas anderes?«
»Deine Augenbrauen!« antwortete Tobias und deutete darauf.
»Meinst du wirklich?« fragte Andria etwas unsicher.
»Ja, sie bewegen sich wirklich toll, wenn du etwas erklärst.«
»Vielen Dank« sagte Andria, wobei sie verlegen lächelte und sich ihr Haar, das ihr etwas ins Gesicht gerutscht war, zurückstrich.
Das ist ein Anblick richtig zum Verlieben, dachte Tobias, ein echtes Bild für die Götter.
Ihm lief ein Schauer der Faszination des Augenblicks über den Rücken. Andria bemerkte es.
»Du frierst ja, Tobias. Warte!«
Bevor Tobias etwas sagen konnte, hatte sie ihre Kutte ausgezogen. Darunter hatte sie nichts an. Bei Tobias schlugen die Alarmglocken, und er schaute absichtlich zur Seite, um sie ja nicht so sehen zu müssen.
»Nicht nötig«, sagte er abwehrend, »es geht schon. Du kannst deine Kutte behalten.«
Andria fand seine Reaktion komisch.
»Was ist, Tobias? Ist es dir peinlich, mich anzusehen?«
»J... ja«, stammelte er.
»Es braucht dir echt nicht peinlich zu sein. Ich sehe doch nicht anders aus als tausend andere Frauen auch. Und ich friere nicht, ich kann Temperaturen zwischen 100 Grad minus oder plus Celsius aushalten. Du kannst die Kutte ruhig nehmen. Und du kannst mich auch ruhig anschauen, Tobias. Ich habe dir gegenüber echt nichts zu verbergen.«
Tobias holte tief Luft, dann sah er sie wieder an, und in dem Moment war er froh, durchgeatmet zu haben, denn obwohl er Andria nur im Halbdunkel sehen konnte, nahm ihr Anblick ihm die Luft weg. Er nahm die angebotene Kutte und legte sie sich über die Schulter.
»Du kannst sie ruhig anziehen«, schlug Andria vor.
»Nein, das reicht schon«, bekräftigte Tobias, mehr verwirrt als klar bei Verstand.
Andria lachte.
»Männer sind komische Wesen«, sagte sie.
»Wieso?« wollte Tobias wissen.
»Naja, sie sind so schwach.«
Was soll denn diese Bemerkung, fragte sich Tobias.
»Aha. Und Frauen sind wohl dann so stark, oder was?«
Die Antwort fiel ganz anders aus, als er sie erwartet hatte.
»Nein, Frauen sind auch schwach. Aber gemeinsam sind sie stark, Frauen und Männer.«
»Ja, das meine ich auch«, bestätigte Tobias, »nur gemeinsam sind sie stark. Aber ich habe es schon oft genug erlebt, daß sich Frauen benahmen, als brauchten sie gar keine Männer.«
»Du irrst dich, Tobias«, anwortete Andria, nun wieder ernster, »Frauen brauchen Männer mehr, als du es dir vorstellen kannst, auch wenn sie das vielleicht nicht immer zugeben wollen. Ich glaube, die Schwierigkeit liegt nur darin, daß sie nicht wissen, wie sie es allen recht machen sollen.«
»Wie meinst du das?«
»Du mußt wissen, daß ich vor meinem Entschluß, zur Erde zu kommen, alle Informationen über das Leben als Frau studiert habe, die ich kriegen konnte. Und dabei ist mir aufgefallen, daß es für eine Frau offenbar wirklich nicht leicht ist, sich richtig zu benehmen: Wenn sie sich mit zu wenig Männern beschäftigt, gilt sie als frigide, wenn es zu viele sind, dann wird sie schnell als Schlampe bezeichnet. Ist sie ungebunden und hat viele männliche Kumpels, ist das okay, aber wenn dann einer von ihnen zu ihrem Partner wird, ist sie die meisten anderen Kumpels auch gleich wieder los, weil die enttäuscht darüber sind, nicht auch ihre Nummer eins geworden zu sein. Eine Frau soll immer schön und beliebt sein, aber wenn sie zu schön und beliebt ist, hat sie mehr Verehrer, als es für sie erträglich ist, und wenn sie nicht so attraktiv und begehrt ist, dann hat sie es schwer, bei Männern anzukommen. Und die meisten Frauen wünschen sich auch, daß sie von den Männern als Menschen wahrgenommen werden und nicht immer nur als Frauen und Geliebte für die Nacht. Sag mir, Tobias, wie kann sich eine Frau richtig benehmen?«
Tobias dachte eine Weile nach, dann antwortete er:
»Ganz einfach, Andria: Indem sie von vornherein ehrlich ist und dem Mann ihre Gefühle gesteht. Nichts hassen Männer mehr, als im Ungewissen zu leben. Angenommen, sie ist gebunden, dann wäre es toll, wenn sie dem Mann sagt, daß sie ihn nicht verlieren will, weil er ihr sehr wichtig ist und sie seine Freundschaft braucht und auch ihm eine gute Freundin sein will, dann weiß der Mann, woran er ist, und das ist fair. Dann wird er auch nicht auf einmal kein Kumpel mehr sein wollen, und wenn sie sich allen Männern gegenüber so verhält oder einem auch offen sagt, wenn sie die Freundschaft nicht will, dann wird sie auch keine Probleme mit zu großer Beliebtheit oder zu vielen Verehrern bekommen. Ich glaube, das mit der Wahrnehmung als Mensch ist eine Sache der gegenseitigen Offenheit. Wenn die Frau z. B. nicht denkt, dies oder jenes könnte der Mann sowieso nicht verstehen, weil er es als Mann nicht kennt, sondern ihn auch da in ihre Welt mit einbezieht, dann wird er sie auch als Mensch wahrnehmen, und er wird ihr dankbar sein, daß sie seinen Horizont erweitert. Wenn er das nicht ist, dann ist er eben nicht der richtige Mann.«
»Tobias, benehme ich mich richtig?« fragte Andria mit leichter Unsicherheit. Sie schaute ihm direkt in die Augen.
»Du benimmst dich absolut richtig, Andria. Als du mich besucht hast, da hast du dich menschlicher benommen, als ich es getan habe. Und du benimmst dich total natürlich, das finde ich toll.«
Andria schaute kurz an sich herunter, und dann wieder ihn an.
»Und sehe ich so aus, wie ich aussehen soll?« fragte sie.
Tobias hatte plötzlich den Eindruck, daß Magie in der Luft lag. Der Raum um sie herum schien nicht mehr zu existieren. Er sah nur noch sich und Andria und um sich herum ein weites, dunkles Nichts, ein Meer der Ruhe.
Er dagegen fühlte sich ganz anders. Er hatte Andria noch nie ganz betrachtet, nun sah er sie aber, völlig im Naturkleid und wagte nicht zu atmen.
»Du siehst fantastisch aus«, sagte er und wunderte sich, wieso er noch eine Stimme hatte, »richtig traumhaft«.
Andria lächelte. Dieses Lächeln begann die ganze Umgebung zu überstrahlen. Tobias hatte den Eindruck, daß die Dunkelheit zurückwich und dem Licht Platz machte.
»Eins ist seltsam«, sagte Andria jetzt, »du hast einen ganz anderen Geschmack als die meisten Männer. Die wollen immer blondes Haar, große Busen und rote Lippen. Du willst lieber dunkles Haar, kleine Busen und ungeschminkte Lippen. Wieso?«
Tobias braucht nicht lange nachzudenken, denn die Antwort auf diese Frage hatte er schon seit Jahren parat.
»Weil für mich gerade das Unscheinbare, Kleine und manchmal auch Verborgene viel interessanter ist als das, was sich einem aufdrängt. Außerdem ist Schönheit alles, was man an einem Menschen als schön empfindet, nicht nur das Aussehen.«
Was Andria nun sagte, hörte sich für Tobias an wie Magie.
»Tobias, du bist richtig faszinierend. Du hast so viel Gespür. Ich kann es in deinen Augen sehen und auch in deinen Gedichten. Du schreibst und du sprichst mit Seele. Das ist mehr, als es die meisten anderen Menschen tun. Du kannst richtig toll zuhören, und du gibst mir das Gefühl, daß du mich jetzt so nimmst, wie ich bin. Noch was: Du bist viel zu schüchtern. Und außerdem liebe ich dich.«
Tobias wollte sie nur noch umarmen. Alles in ihm verlangte danach, er wollte das einzige Mädchen, für das es seiner Ansicht nach lohnte, zu leben und zu sterben, endlich in den Armen halten. Aber im selben Augenblick hörte er das Geräusch einer sich öffnenden Gittertür. Schlagartig war die Helligkeit weg, und er sah sich wieder in der alten Zelle mit dem seltsamen bläulichen Licht.
Die drei Mitglieder des Tribunals standen vor der Tür. Die mittlere hatte gerade die Tür geöffnet und war eingetreten. Zuerst wandte sie sich Andria zu.
»Wir haben unsere Entscheidung getroffen.«
»Was habt ihr vor?« fragte Andria.
Die mittlere Gestalt gab eine kurze Antwort, die Tobias beim besten Willen nicht verstehen konnte, weil es eine völlig andere Sprache war.
»Nein bitte, tut ihm das nicht an!« bat Andria, der nun der Schrecken im Gesicht stand.
»Unsere Entscheidung steht fest. Komm jetzt mit uns!«
Es klang wie ein Befehl, und es gab offenbar auch keine Möglichkeit, die mittlere Gestalt umzustimmen. Andria senkte den Kopf, nickte und ging durch die Tür, die Gestalt folgte ihr, und ehe Tobias es sich versah, hatte sie die Tür wieder geschlossen.
»Mensch, du wirst hier warten, in einer halben Stunde kommen wir wieder.«
Sie gingen. Tobias rüttelte wütend an den Gitterstäben.
»Andria!« rief er.
Andria schaute sich nochmal um, und Tobias kam es vor, als hätte sie wieder Tränen in den Augen. Dann waren sie in der Dunkelheit verschwunden, und er war wieder allein.

Tobias seufzte. Er zog die Kutte an. Wenn schon Andria nicht mehr hier war, dann wollte er wenigstens auf der Haut spüren, was sie getragen hatte. Ich werde es ihnen heimzahlen, und wenn es das letzte ist, was ich tue, dachte er grimmg und begann sich auszumalen, wie seine Rache aussehen könnte. Er stellte sich vor, daß das Zellengitter sein Verbündeter wäre und begann, ihm seine Gedanken zu erzählen.
»Was sie wohl mit Andria machen werden, oder soll Andria irgendwas mit mir machen, was sie gar nicht will? Verdammte Warterei! Ich will nur noch zu ihr. Alles andere ist mir total egal, das müssen diese Richterinnen, oder was sie auch sonst sind, doch begreifen können. Ohne Andria gehe ich jedenfalls nicht wieder zurück, da müssen sie schon Gewalt anwenden, um mich von ihr zu trennen. Verdammt, ich muß zu ihr! Irgendwie muß ich es schaffen! Ich werde sonst verrückt. Ob die auf diesem verdammten Planeten überhaupt wissen, was das bedeutet? Vermutlich nicht. Da sind sie so weit entwickelt und reisen mit Raumschiffen durch das Universum, aber wenn ein kleiner Mensch wie ich zu Andria will, brauchen sie ein Gericht. Das geht sie doch gar nichts an! Das ist eine Angelegenheit von Andria und mir. Nur wir beide wissen, was das bedeutet. Wie können sich diese Gestalten da einmischen? Zumal sie gar nicht wissen, was Liebe oder Sehnsucht ausmacht! Das kann doch alles nicht sein!« Er fluchte, schimpfte, rüttelte immer wieder am Gitter und redete und redete, bis er Schritte hörte.
Tatsächlich, es waren die drei Gestalten. Sie kamen wieder in den Raum, und wie die beiden Male zuvor war es die mittlere Gestalt, die die Tür öffnete.
»Folge mir, Mensch!«
»Erst will ich wissen, wo Andria ist, sonst gehe ich nicht!« sagte Tobias.
Die mittlere Gestalt schien etwas irritiert zu sein, dann anwortete sie:
»Du wirst sie gleich sehen, wir führen dich zu ihr.«
Tobias verbuchte dies als kleinen Sieg für sich und folgte der Gestalt. Wenig später stand er wieder im anderen, größeren, aber viel dunkleren Raum. Dann machte ihm die mittlere Gestalt ein Zeichen, daß er stehenbleiben sollte. Sie selbst und die anderen gingen noch ein paar Meter weiter, dann stellten sie sich im Halbdunkel in einer Reihe vor ihm auf. Kurz danach sagte die mittlere Gestalt:
»Licht!«
Ein Lichtschein fiel plötzlich von oben herab genau auf die Stelle, hinter der das Tribunal Stellung bezogen hatte. Tobias erkannte, daß dort noch ein Körper vorhanden war. Aber als er ihn genauer erkennen konnte, packte ihn das Grauen, denn das hatte er nicht erwartet:
Der Körper dort hatte keine Haut. Es waren deutlich die künstlichen Knochen, Rippen und Gelenke zu sehen, die Kabel, Prozessoren und Drähte, die Leierbahnen und Speichereinheiten, alles in den Farben Silber, Grün und Schwarz. Der Kopf des Körpers hatte mehr Gemeinsamkeit mit einem Totenschädel, aus dem die künstlichen Augen deutlich hervortraten. Und sie sahen ihn offenbar an.
Tobias kroch die Angst in den Nacken. Ihm kam ein Verdacht.
»Bist... bist du das, Andria?« fragte er, mehr oder weniger unsicher.
»Ja«, sagte Andria und senkte den Kopf. Sie hatte noch immer dieselbe Stimme. »Es tut mir leid...«
Und Tobias wußte in diesem Augenblick, daß es für ihn kein Halten mehr gab. Da stand Andria nun vor ihm, und zu heftig war die Sehnsucht nach ihr, zu gewaltig die Verbundenheit mit ihr und zu mitreißend das, was er durch sie erlebt hatte. Ihm war es, als würde sich hinter ihm in der Dunkelheit eine riesige Welle aus Gefühlen aufbauen, die kurz danach auf ihn zustürzte, ihn erfaßte und mit sich riß, und er ließ sich nur zu gern treiben. Er brauchte gar nicht darüber nachzudenken, was er als nächstes tun würde, er wußte es schon instinktiv. Jetzt begann zu rennen, dann sprang er mit ein paar großen Sätzen auf Andria zu, bis er bei ihr war, und ohne zu zögern umarmte er sie. Er zog sie so fest an sich, wie er nur konnte. Und dann konnte er endlich sagen:
»Ich liebe dich, Andria! Ich liebe dich!«
Andria wußte erst nicht, wie sie reagieren sollte, dann umarmte sie ihn ebenfalls und flüsterte:
»Ich liebe dich auch, Tobias«.
Tobias konnte gar nicht mehr aufhören, »Ich liebe dich« zu sagen, er wiederholte es immer wieder. Dieser eine Satz mit den drei Wörtern hatte ewig lange in ihm geschlummert, und es hatten sich im Laufe der Jahre immer mehr von diesen Sätzen angesammelt, so daß sie diesem Augeblick alle an die Oberfläche kamen, so wie lange unter Wasser gehaltene Luft, die nun nach oben sprudelte. So lange hatte er warten müssen, bevor er das zu jemandem sagen konnte, und jetzt war es ihm, als hätte er nie etwas anderes zu Andria sagen können, es überwältige ihn selbst. Er wollte sie, und er wollte sie so, egal wie sie war und was sie war, er wußte nur, er wollte nur sie, Andria, die einzig wahre Andria, seinen Schatz, sein Sinn und sein Ziel, seine Bestimmung und sein Leben. Und solange er sie hatte, das wurde ihm einmal mehr klar, war er gerettet. Gerade jetzt hätte er weinen können vor Glück.
Die drei Gestalten des Tribunals hatten diese heftige Reaktion von Tobias überrascht. Sowas war noch nie vorgekommen, und sie wußten nicht, wie sie es verstehen sollten.
»Mensch, wir wollen dich etwas fragen«, sagte die mittlere Gestalt und nahm ihre Kapuze herunter. Nun taten es die anderen beiden Gestalten ebenfalls, und es kamen drei Frauenköpfe zum Vorschein, die dem von Andria, so wie Tobias sie zum ersten Mal gesehen hatte, relativ ähnlich sahen. Die mittlere Gestalt fuhr fort:
»Wir wußten von Andria, daß du Maschinen und Roboter verachtest. Deshalb haben wir Andrias Körperhülle entfernt und sie dir so gezeigt, wie sie technisch aussieht. Das hat dich aber nicht abgehalten, sie zu lieben. Bitte erkläre uns das.«
Tobias antwortete und hielt Andria dabei weiter ihm Arm.
»Ich glaube, ihr versteht das deshalb nicht, weil Liebe bei Euch nur eine Funktion wie jede andere ist. Aber Liebe ist wesentlich mehr. Sie beweist sich immer dann, wenn sie Grenzen überschreitet, die man vorher für unüberwindlich hielt. Andria und ich können noch so verschieden sein, unsere Liebe macht uns beide gleich, sie ist wie ein festes starkes Band, das uns umgibt und zusammenhält. Und trotz aller Unterschiede ist Andria wesentlich mehr als die Summe ihrer Bauteile, sie nicht nur ein wunderbares, gefühlvolles Wesen, sondern mein Leben. Sie hat mir all die schönen Seiten des Lebens gezeigt und brauchte dafür nur einen Tag, sie hat meinetwegen viel Leid auf sich genommen, und obwohl sie kein Mensch ist, versteht sie mich, hilft mir und liebt mich. Und ich liebe sie. Sie ist einzigartig, und sie gibt so viel, viel mehr, als sie nimmt. Ich habe noch niemals jemanden zuvor so geliebt wie sie, und ich weiß jetzt, daß wir für immer und ewig zusammengehören. Sie ist mein Atem, mein Herzschlag und mein Augenlicht. Dabei ist es ganz egal, wie sie beschaffen ist, denn ich liebe nicht so sehr ihren Körper, sondern mehr ihr Herz und ihre Seele, und die ist überwältigend schön. Bei ihr finde ich nicht nur Sinn, sondern auch Sinnlichkeit, Verständnis und Geborgenheit. In ihren Armen bin ich gefangen und gleichzeitig unendlich frei. Es ist so viel Leben in ihr und ich bin glücklich, daß ich sie habe. Sie ist einfach der Stoff, aus dem die Träume sind. Und sie ist genau die Person, in der ich völlig aufgehen kann, ohne mich selbst zu verlieren.«
»Du bist doch nicht verloren, Mensch, du bist immer noch existent«, meinte die rechte Gestalt.
»Ja, aber ohne Andria bin ich verloren«, antwortete Tobias, »ohne sie könnte ich noch so reich sein, noch so viel Nahrung und Energie haben, ich wäre trotzdem verloren.«
»Das verstehen wir nicht«, sagte die linke Gestalt, »wie kann man man verloren sein, wenn man alles hat, was einem die Existenz garantiert?«
»Weil einfach der Sinn fehlt«, gab Tobias zurück, »und ohne den ist man nur eine biologische Funktion ohne Ziel. Man wird irgendwie kalt, leidenschaftslos, starr, lieblos, stumpf und gleichgültig, so wie ein Schalter, dem es egal ist, ob man ihn an- oder ausschaltet. Das will ich nicht sein, ich möchte ein Leben mit Sinn. Und für mich ist Andria der Sinn.«
Die drei Gestalten schauten sich verwundert an und disktutierten eine Weile in einer Tobias völlig unverständlichen, aber sehr technisch klingenden Sprache miteinander. Dann sagte die mittlere Gestalt:
»Wir haben deine Meinung zur Kenntnis genommen, Mensch. Jetzt werden wir Andria ihre Körperhülle zurückgeben und euch in deine Welt entlassen.«
Tobias wollte noch etwas sagen, aber da wurde es plötzlich stockdunkel um ihn, er verlor den Boden unter den Füßen, raste in einen riesigen Abgrund und verlor das Bewußtsein.

Sonnenlicht fiel durch das Fenster. Tobias wachte auf und erkannte, daß er in seinem Bett lag. Er fühlte sich seltsam, gähnte erstmal und schaute sich um. Dann fiel ihm das Erlebnis von gestern ein. Er kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob es Wirklichkeit oder nur ein Traum gewesen war.
»Andria?« rief er laut.
Es kam keine Antwort.
Wußte ich es doch, dachte Tobias, es wäre ja auch zu schön gewesen.
»Hier bin ich, Tobias!«
Plötzlich stand Andria in der Tür. Sie sah so aus wie am Freitag, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, mit dem einzigen Unterschied, daß sie einen Schlafanzug trug.
»Entschuldige, ich mußte nur eben auf die Toilette.« sagte sie.
Tobias war sich immer noch nicht sicher, ob er nicht vielleicht doch träumte.
»Bitte komm her zu mir«, bat er sie.
»Liebend gern!«
Mit zwei Sätzen war sie auf dem Bett gelandet. Tobias streckte seine Arme aus und umarmte sie fest.
»Du bist wirklich da!« stellte er fest.
»Ja, und du auch« sagte Andria, ein wenig verschmitzt.
»Bitte bleibe bei mir. Ich kann ohne dich nicht mehr leben«, bekräftige Tobias.
»Ich ohne dich erst recht nicht. Ich liebe dich« sagte Andria und gab ihm einen dicken Kuß. Er erwiederte ihn, dann flüstere er: »Ich dich auch«, und strich ihr über ihr dunkles Haar.
»Ich möchte dich was fragen«, äußerte er dann, »als du damals gegangen warst, bin ich zum Fenster und habe auf die Straße hinausgesehen, aber ich konnte dich nirgends entdecken. Wo warst du denn?«
»Ich habe das Haus nicht sofort verlassen«, erklärte Andria, »sondern mich unten in einer Ecke versteckt, weil ich erstmal weinen mußte. Erst nach einer halben Stunde hatte ich mich wieder einigermaßen gefaßt.«
»Verzeih mir«, sagte Tobias, der sich immer noch ein wenig schuldig fühlte.
»Ist vorbei«, gab Andria zurück und küßte ihn wieder.
»Da ist noch etwas: Wie hast du die Flaschenpost so schnell gefunden?«
»Durch den Pastor«, antwortete Andria, wobei sie lächelte.
»Den Pastor?« fragte Tobias verwundert.
»Ja, ich war auch bei ihm, genau wie du, nur eben früher, und habe ihn um Rat gebeten.«
»Und was hat er gesagt?«
»Er sagte, er würde eine Predigt halten, die du hören müßtest. Und er gab mir die Adresse einer Jugendherberge, in der ich so lange wohnen konnte.«
Tobias ging ein Licht auf.
»Ich habe noch ein paar andere Fragen. Alterst du eigentlich?«
»Ja, ich altere auch. Ich werde allerdings nur wenige Falten bekommen, weil meine Haut sich anders erneuert als deine. Aber mein Haar wird dafür genauso grau wie deins werden«, antwortete Andria und strich sich über ihr Haar, was Tobias total faszinierend fand.
»Und wie alt kannst du werden?« wollte er wissen.
»Maximal 100 Jahre. Das hängt damit zusammen, daß mein Energiespeicher nicht ewig wieder neu aufgeladen werden kann. Irgendwann ist seine Kapazität erschöpft«, erklärte sie.
»Aber dann könnte man ihn doch auswechseln«, warf Tobias ein.
»Ja, aber das würde mir nicht mehr viel nutzen. Dann müßte so gut wie alles andere auch ausgewechselt werden, zum Beispiel meine Haut, mein Kopf und alle meine inneren Organe, weil die durch den chemisch bedingten Verschleiß auch nicht mehr lange funktionieren würden. Es ist sehr schwierig und aufwändig und wäre letztendlich nur ein Aufschieben des Unvermeidbaren«, erläuterte Andria.
»Sag mal, Andria, ist bei dir eigentlich alles so, wie es bei einer normalen Frau auch ist? Ich meine, bekommst du auch deine Regel?«
»Du meinst die Menstruation? Ja, sowas ähnliches bekomme ich auch, und das genauso oft und lange. Macht es dir etwas aus?« fragte sie etwas vorsichtig.
»Nicht im Geringsten«, gab Tobias köpfschüttelnd zurück, »ich will dich genauso, wie du bist und nicht anders.«
»Ich dich auch. Aber es gibt da noch etwas, was ich dir sagen muß«, sagte Andria nachdenklich.
»Was denn?«
Andria seufzte. »Ich kann nicht schwanger werden und Kinder bekommen. Sowas ist in unserer Welt von Natur aus nicht vorgesehen, und es gab auch keine Möglichkeit für mich, diese Fähigkeit zu erhalten. Ist das schlimm?«. Sie schaute ein wenig unglücklich aus, so als würde sie erwarten, daß Tobias enttäuscht war. Stattdessen zog er sie an sich und küßte sie innig.
»Du brauchst dir da keine Sorgen zu machen, Andria. Dafür kannst du ja nichts, und es gibt ja zum Glück noch ein paar andere Möglichkeiten, zum Beispiel Adoption, die man nutzen könnte. Du bist für mich trotzdem die beste Frau aller Zeiten!«
Andria strahlte. Sie war so glücklich und erleichtert, daß sie ihm als Antwort einen genauso langen und innigen Kuß gab wie er ihr vorher.
»Bitte geh' vorsichtig mit mir um«, bat sie ihn noch, »weißt du, ich bin zwar körperlich echt robust und kann viel aushalten, aber seelisch bin ich sehr viel empfindlicher und verletzbarer, als es aussieht.«
»Ich verspreche es dir, bei mir ist es auch nicht anders«, gab er zu und wunderte sich, wie leicht ihm das fiel.
»Noch eine Frage, Andria: Warum hast du eigentlich gerade mich ausgewählt? Es gibt doch Millionen anderer einsamer Informatiker, die wahrscheinlich auch keine Angst vor deiner Beschaffenheit gehabt hätten«, fragte Tobias weiter.
»Das kann sein, Tobias. Nur: Dann hätten sie immer noch nicht so viel Gefühl und Gespür wie du gehabt, abgesehen davon, daß sie mich wahrscheinlich nur wegen meiner Beschaffenheit interessant gefunden hätten und sonst nicht. Die meisten haben sowieso eine komische Vorstellung von Frauen, sie machen sich längst nicht so viele Gedanken um sie wie du, und sie machen sich auch keine Mühe, sie zu verstehen. Du machst es einer Frau eigentlich ziemlich leicht, sich von dir geliebt zu fühlen, Tobias. Wenn es bisher selten passiert ist, kann es nur daran liegen, daß sie gerade in jemand anderen verliebt waren oder kein Interesse an einer Liebe hatten.«
Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort:
»Weißt du, eins ist mir noch aufgefallen: Ihr Menschen seid von sehr vielen Ängsten beherrscht, zum Beispiel vor Krankheit, Hunger, Armut, Krieg, Tod, Gewalt, Lüge oder Betrug. Ihr versucht euch so gut wie möglich dagegen zu schützen, aber nur wenn ihr liebt, fühlt ihr keine Angst mehr. Ist das der Grund, warum Menschen die Liebe so verehren?«
»Das stimmt«, antwortete Tobias, »auch heute noch hat man viele Sorgen und Ängste im Leben. Nur in der Liebe können wir jegliche Angst vergessen. Liebe ist deshalb das beste Mittel gegen die Angst. Ich nehme an, viele dieser Ängste, die du genannt hast, gibt es auf eurem Planeten nicht?«
»Nein«, räumte Andria ein, »aber das ist nicht unbedingt ein Vorteil, denn sowas wie Liebe und ein so leidenschaftliches und intensives Erleben davon wie bei euch gibt es bei uns dadurch nicht.«
Sie tippte kurz mit dem Zeigefinger auf seine Brust, als wäre ihr gerade etwas eingefallen, dann sagte sie: »Ich möchte dich noch etwas anderes fragen: Warum hast du meine Augenbrauen denn so bewundert, als wir vor dem Zellenfenster standen? Sie sind doch ganz normal, oder?«
»Ja, aber dadurch, daß sie so dunkel sind, wird dein Gesicht unheimlich ausdrucksstark. Außerdem haben mich schon immer andere Dinge bei einer Frau fasziniert als die meisten Männer, nämlich Haare, Gesicht und Hände. Und die Augenbrauen gehören auch dazu, besonders deine!«
»Ich finde das toll, danke Tobias« sagte Andria und kuschelte sich noch enger an ihn. Tobias genoß es unendlich, sie so nah an sich zu spüren, und er fühlte sich jetzt mehr mit ihr verbunden als mit der Haut seines Körpers. Er hatte noch nie zuvor so eine ungeheure Innigkeit gespürt.
Plötzlich sah ihn Andria wieder an und fragte:
»Darf ich dir mal was zeigen?«
»Na klar«, antwortete Tobias.
Sie legte ihre Hand auf seinen Brustkorb, genau auf die Stelle, unter der sein Herz schlug. Plötzlich fühlte Tobias eine wohltuende Wärme, die von ihrer Hand ausging und sich allmählich in seinem ganzen Körper ausbreitete.
»Das tut gut! Was ist das?« fragte er sie nach einer Weile.
»Das ist nichts besonderes«, gab Andria zurück, wobei sie ein wenig verschmitzt lächelte, »das sind nur meine Gefühle für dich. Gefühle sind ja auch eine Art von Energie und ich habe mir gedacht, so könnte ich sie dir auch mal zeigen«.
Tobias legte seine Hand auf ihre.
»Du bist echt das beste, was mir je passieren konnte«, gab er offen zu, und küßte sie zum Dank.
»Die nächste Zeit könnte ein bißchen kompliziert werden«, überlegte er schließlich laut, »du brauchst einen Ausweis, einen Führerschein und einen Lebenslauf. Irgendwie müssen wir dir das besorgen.«
Andria lächelte amüsiert.
»Einen Ausweis habe ich schon, einen Führerschein auch, und eure Sozialversicherung kennt mich auch schon. Du mußt wissen, daß ich nicht einfach so unvorbereitet auf die Erde geschickt wurde. Es gab vorher ein Eingliederungsprogramm, damit ich hier nicht auffalle. Um meinen Beruf brauchst du dir auch keine Gedanken zu machen, meinem Lebenslauf nach bin ich gerade Studentin und studiere Geschichte und Biologie, und zwar deshalb, weil ich noch viel mehr über die Geschichte und das Leben auf der Erde erfahren möchte. Ich hoffe, du bist damit einverstanden.«
»Total einverstanden«, bestätigte Tobias. Er strich ihr erneut über ihr Haar, dann sagte er:
»Ich bin richtig froh, daß du bei mir bist. Hätte ich dich doch damals nicht gehen lassen, dann hätte ich dir so viel erspart.«
»Mach' dir deshalb keine Vorwürfe mehr«, gab Andria zurück und strich ihm über das Haar, »es ist vorbei und außerdem hast du die Prüfung des Tribunals dafür umso tapferer durchgestanden. Ich war mir echt nicht sicher, ob dich mein Anblick ohne Körperhülle nicht so erschrecken würde, daß du wegläufst. Als du dann auf mich zugerannt kamst und mich umarmt hast, war ich riesig froh. Und besonders toll fand ich deine Antwort auf ihre Frage, warum du das trotz meines Zustandes getan hast. Es war wunderschön zu spüren, daß du auf meiner Seite warst.«
»Ich werde auch nie mehr von deiner Seite weichen, egal was passiert. Ich kann es auch gar nicht, ich brauche dich viel zu sehr«, bekräftige Tobias.
»Ich dich auch«, antwortete Andria, »und besonders brauche ich deine Streicheleinheiten, nicht nur für die Energie, auch so - für die Seele. Wannimmer dir also danach ist, mich zu berühren, brauchst du nie zu zögern, sondern es einfach nur zu tun.«
»Das brauche ich genauso, Andria, auch wenn es vielleicht oft nicht so aussieht«, gab Tobias zu und streichelte ihr über den Rücken.
»Du kannst toll streicheln«, sagte Andria. »Ich bin so glücklich mit dir.«
»Ich bin auch glücklich mit dir.«
Sie lagen noch eine ganze Weile so zusammen und unterhielten sich, während die Sonne aufging und den Tag für sie verschönerte. Und obwohl dies eine der seltsamsten Liebesgeschichten ist, so zeigt sie doch, daß zwei, die sich lieben, auch trotz aller Unterschiede zueinander finden können, wenn sie es nur wollen. Zuletzt bleiben nur noch die Fragen, warum Andria keinen geeigneten Partner auf ihrem eigenen Planeten fand, sich unter den unzähligen Sternen ausgerechnet die nicht unproblematische Erde und unter den Milliarden Menschen Tobias zum Finden aussuchte und wo ihre Schwester letztendlich geblieben ist. Tja, Leute - das ist und bleibt Andrias Geheimnis.

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