Kilia

Als ich morgens auf Uu Eitaku ankam, hatte ich eigentlich vor, wie die beiden Male zuvor nur 2 Wochen zu bleiben. Das Wetter war gerade schlecht, es regnete und der Himmel war ein einziges Grau, und das passte auch zu meiner Stimmung. Ich hatte gerade eine Pechsträhne hinter mir und hatte mir vorgenommen, die Seele baumeln zu lassen und alles zu vergessen. Ich stieg in eine Kutsche und liess mich zum Kurhaus bringen. Dieses Gebäude war praktisch viereckig mit einem grossen Garten in der Mitte, in dem ein Springbrunnen stand, aus dem es ständig Wasser rieselte. Rings um den Brunnen befanden sich Bänke, die auf einem gepflasterten Untergrund standen. In den Ecken befanden sich Bäume und neben ihnen kleine Grünflächen, auf denen Gras und Blumen wuchsen.

Der Empfang im Kurhaus war wie immer herzlich. Die Empfangsdame heiss mich willkommen, übergab mir die Zimmerschlüssel und wünschte mir einen guten Aufenthalt. Ich ging ins Zimmer, stellte meinen Koffer in eine Ecke und schaute mich erstmal um. Vor mit stand ein grosses, hölzernes Bett, daneben ein Holzschrank und ein kleiner Tisch mit einem Stuhl. Gegenüber dem Bett war ein Kamin in die Mauer eingelassen. Zur rechten Seite befand sich ein Durchgang, durch den man ins Bad kam. Das Bad bot ein Waschbecken und eine Badewanne, neben dem ein grosser, eiserner Ofen stand, in dessen oberer Hälfte das Badewasser eingelassen werden konnte, das man dann durch das neben dem Ofen aufgeschichtete Holz erwärmen konnte. Gegenüber dem Ofen stand ein weiterer Schrank, der eigentlich kein Schrank war, sondern die Toilette beinhaltete. Wie das Bad, so war auch der restliche Boden des Zimmers grau gefliest.

Dieses Zimmer bot bei weitem nicht den Komfort, den man von modernen Hotels gewöhnt ist. Jemand, der zum ersten Mal nach Uu Eitaku kam und das nicht gewohnt war, musste sich erstmal an das einfachere Leben in einer spätmittelalterlichen Gesellschaft einleben. Ich hatte damit kein Problem gehabt, im Gegenteil, ich wollte es einfach haben, denn umso schneller kann man das kompliziertere Leben, das man sonst jeden Tag führt, vergessen.

Als ich gerade meine Sachen auspacken wollte, klopfte es an der Tür. Ich öffnete sie und sah eine junge Frau, etwa 1,65 m gross, schlank, mit halblangen, fast meeresgrünen Haaren und blassblauen Augen. Sie trug die Kleidung einer Dienerin und ein Tablett in ihren Händen.

"Guten Morgen, Tata. Ich heisse Kilia und bin Eure Dienerin. Möchtet Ihr frühstücken?"

"Tata" hiess sowohl Vater als auch Herr in der Sprache der Eitaku und war bei den Bewohnern des Planeten die höfliche Anrede gegenüber Vorgesetzten und Fremden, sofern sie männlich waren. Weibliche Vorgesetzte wurden dagegen mit "Mata" angeredet, gleichbedeutend mit Mutter und Herrscherin.

"Mataku" antwortete ich. Sie schaute mich überrascht an.
"Ihr beherrscht unsere Sprache, Tata?" fragte sie.
Ich hatte ihr auf Eitakunisch einen guten Tag gewünscht. Die meisten Wörter in Eitakunisch enthielten viele "A" und "U" Selbstlaute und waren deshalb relativ leicht zu lernen. Der Buchstabe "O" wurde seltsamerweise, ausser bei der Äusserung höchster Verwunderung, nie gebraucht. Die Grammatik der Umgangssprache war ebenfalls noch vergleichsweise einfach, während die des klassischen Eitakunisch wesentlich anspruchsvoller war, weil sich Endungen je nach Satzstellung änderten. Da heiss es dann zum Beispiel auch mal "Mataka" oder "Mataki", um um das zu beherrschen, kam man um ein Studium nicht herum.
"Nur ein bisschen", antwortete ich, "aber ich lerne gern dazu. Komm rein. Du kannst das Tablett auf den Tisch stellen."
Sie trat ein, stellte das Tablett auf den Tisch und rückte den Stuhl zurecht. Ich setzte mich.
"Ich räume schonmal Eure Kleidung ein", sagte sie. Ich schüttelte den Kopf.
"Das hat Zeit. Setz dich mal auf das Bett."
Sie schien verwirrt zu sein, folgte dann aber und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Dienerinnen wie sie waren es eigentlich gewohnt, dass sich ein Gast während seines Aufenthaltes von hinten und vorne bedienen liess und ihnen immer etwas zu erledigen aufgab. Und wenn er es nicht tat, erwartete man von der Dienerin, dass sie sich die Arbeit selbst suchte. Eine Dienerin, die nichts zu tun hatte, galt als faul und wurde, wenn sie jemand dabei entdeckte, schnell zurechtgewiesen. Daher kam es selten vor, dass ein Gast eine Dienerin bat, sich einfach mal auf ein Bett zu setzen und eine Weile nicht zu arbeiten.
Sie zupfte ihr Gewand zurecht. Das Dienerinnengewand bestand aus einer grünen Miederweste, unter der eine weisse Bluse getragen wurde, und einem Leinenrock, der bis über das Knie ging. Um der Dienerin eine grössere Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, konnte dieser Rock in der Mitte auch bis kurz unter die Oberschenkel geteilt werden. Ihre Schuhe waren schwarze Halbschuhe mit flachen Absätzen. Ich selbst trug meistens eine Weste, darunter ein dickes Hemd und eine schwarze Hose. Diese Kleidung hatte den Vorteil, dass ich in der Stadt nicht gleich als Gast auffiel.
"Möchtest du auch etwas essen?" fragte ich sie, während ich mir ein Brot mit Marmelade bestrich.
"Danke, Tata, ich brauchte nichts. Ich habe schon gefrühstückt", antwortete sie.
"Wie war dein Name?"
"Kilia."
"Und wie alt bist du?"
"Dreiundzwanzig."
"Hat dein Name eine Bedeutung?"
"Ich glaube, er heisst sowas wie heller Kristall. Es gibt eine Art von Bergkristallen, die werden auch so genannt."
"Hast du noch mehr Geschwister?"
"Ich habe noch zwei jüngere Schwestern und Brüder."
Das bedeutete offensichtlich, dass sie das älteste von 5 Kindern war. Diese Anzahl war in ihrer Welt nicht ungewöhnlich. Die meisten Familien hatten mindestens 3 Kinder, oft wesentlich mehr. Normalerweise war es üblich, dass sich die älteren Geschwister um die jüngeren kümmerten. Daher ging ich davon aus, dass es bei Kilia wohl auch der Fall gewesen sein musste.
"Wie lange bist du schon Dienerin?" wollte ich wissen.
"Im nächsten Monat werden es zwei Jahre, Tata", gab sie zurück.
Sie hatte sich immer noch nicht richtig gesetzt, sondern stand stattdessen halb vor dem Bett, eine Haltung, die auf mich einen unbequemen Eindruck machte. Da  kam mir eine Idee.
Ich stand auf und rückte den Tisch nahe an das Bett, rückte den Stuhl an den Tisch, setze mich auf das Bett und sagte ihr:
"Setz dich ruhig auf den Stuhl. Ich kann nicht essen, wenn meine Dienerin nicht richtig sitzt."
"Ja, Tata", entgegnete sie, offensichtlich etwas verwirrt und setzte sich vorsichtig auf den Stuhl. Wahrscheinlich konnte sie es immer noch nicht glauben, dass sie sich wirklich setzen durfte und ich mir keinen Spass mit ihr erlaubte.
Ich war schon fertig und trank noch das Glas Milch. Viel Hunger hatte ich sowieso nicht gehabt. Trotzdem war das warme Brot und die kühle Milch der erste Lichtblick an diesem Tag.
Es piepte zweimal, direkt neben mir.
"Was ist das?" fragte sie.
Ich holte den Kommunikator hervor, ein viereckiges, blaues Gerät von der Grösse einer halben Hand, das in erster Linie als mobiles Bildtelefon diente, aber auch jegliche andere Information wie Adressen, Bilder, Töne, Notizen, Termine und Uhrzeiten enthalten konnte, und zeigte es ihr.
"Das Piepen bedeutet, dass ich gerade eine kurze Nachricht bekommen habe."
Kilia nickte, stellte aber keine weiteren Fragen.
"Ich bin fertig", sagte ich ihr, "kannst du dieses Tablett wegbringen? Danach kannst du meine Sachen in den Schrank räumen."
"Ja, Tata."
Sie nahm das Tablett und verschwand. Ich dachte eine Weile nach. Kilia war ein schöner Name. Bisher hatte ich mit ihren Vorgängerinnen zwar keine schlechten Erfahrungen gemacht, es waren auch gute Dienerinnen und ihrer angenehmen Art war es zu verdanken, dass ich jetzt schon das dritte Mal diesen felsigen Planeten besuchte. Aber sie waren nicht so herausragend, dass ich sie unbedingt hätte wiedersehen wollen. Ehrlich gesagt wusste ich nicht mal mehr ihre Namen.
Kilia kam zurück.
"Hat Euch das Frühstück geschmeckt, Tata?" wollte sie wissen.
"Ja, ganz prima."
"Was kann ich Euch morgen für ein Frühstück bringen?"
Ich überlegte kurz.
"Poffjes hätte ich gern wieder, am liebsten 2 Stück." Poffjes waren sowas wie kleine Milchbrötchen, die schon mit Marmelade gefüllt waren. Eigentlich waren sie auf Eitaku unbekannt, aber ich hatte bei meinem zweiten Besuch mal welche mitgebracht und der Küche gezeigt. Seitdem gab es auf Eitaku auch Poffjes.
"Wie Ihr wünscht, Tata."
Sie räumte meine Sachen ein, während ich aus meiner Jacke den Kurplan hervorholte. Den Kurplan konnte man sich nach ärztlicher Untersuchung von der Kurleitung zusammenstellen lassen. Er enthielt auf das Untersuchungsergebnis zugeschnittene Angebote, die man während seines Aufenthaltes annehmen konnte oder auch nicht. Obwohl man ihn sich immer wieder neu erstellen lassen konnte, hatte ich ihn seit meinem ersten Besuch nicht geändert und arbeitete deshalb immer wieder dieselben Aktivitäten ab. Heute, am Tag der Ankunft, war ein Spaziergang zu den Basaltklippen vorgesehen. Ich hatte kaum Lust dazu, denn nach einem Blick aus dem Fenster wusste ich, dass das Wetter immer noch schlecht war und ein Spaziergang im Regen eigentlich nicht das war, was ich brauchen würde.
"Kann ich Euch helfen, Tata?" fragte Kilia, die mich grübeln gesehen hatte.
"Vielleicht, Kilia. Heute sieht mein Kurplan einen Spaziergang zu den Basaltklippen vor, aber im Regen macht das keinen Spass".
"Darf ich Euch etwas vorschlagen?" fragte sie vorsichtig.
"Was denn?"
"Wir können in die Basteiner Berghalle gehen. Meistens sind da um diese Zeit die Luffis unterwegs, das ist immer lustig".
Bei dem Gedanken daran lächelte sie, und in diesem Augenblick fiel mir auf, dass sie ein schönes Lächeln hatte - wie es eben nur sein kann, wenn es direkt von Herzen kommt.
Ich beschloss, mich überraschen zu lassen und auf ihren Vorschlag einzugehen.
"Einverstanden. Besuchen wir also die Berghalle."

Die Berghalle war zwar nicht weit entfernt, aber man brauchte schon eine Viertelstunde bis dahin, zudem ging es nur bergauf, und dann wollte dieser Regen nicht nachlassen. Kilia hatte uns zwei Regenschirme besorgt, aber ab und zu blies der Wind von der Seite, und man bekam die Tropfen mitten ins Gesicht. Dann hatten wir es endlich geschafft. Der Eingang zur Berghalle lag ein wenig versteckt, und ich musse gesehen, dass ich ihn bestimmt übersehen hätte, wenn Kilia mich nicht auf ihn hingewiesen hätte. Als wir eintraten, war ich überrascht: Die Berghalle war weniger dunkel, als ich gedacht hatte. Der Grund waren Lücken im Gestein, durch die das Tageslicht herein­schimmerte. Nach wenigen Minuten hatten sich die Augen daran gewöhnt und man konnte so gut sehen wie draussen.
Kilia schaute sich eine Weile um. Es war still und leer und ich dachte schon, wir könnten wieder gehen. Dann sagte sie plötzlich: "Da hinten sind sie, Tata. Komm mit!"
Sie zeigte in eine bestimmte Richtung und ging voraus, ich folgte ihr. Und tatsächlich, nachdem wir ein paar hohe Felsen umrundet hatten, bemerkte ich ein reges Gewusel auf dem Untergrund.
Was dort ablief, war wirklich drollig: Kleine Wesen, eine Mischung zwischen Maus und Bär, höchstens 10 cm hoch, waren damit beschäftigt, die Wände mit Erde gegen den Regen abzudichten. Das taten sie allerdings sehr unkoordiniert - sie fielen hin oder übereinander, rollten zur Seite, rutschten aus oder drängelten sich irgendwo hin, wo was frei war. Dazu gaben sie ständig Laute von sich, die klangen wie "back, back", als wollten sie tatsächlich etwas backen. Unsere Anwesenheit schien sie nicht zu stören, im Gegenteil, sie legten sich nun erst recht ins Zeug - das Chaos wurde dadurch natürlich noch grösser. Jetzt musste ich tatsächlich lachen, denn sowas hätte ich garantiert nicht erwartet.

Nachdem wir genug gesehen hatten, sagte ich:
"Kilia, ich würde gern noch zur Markthalle gehen und ein paar Kleinigkeiten für das Zimmer kaufen".
"Ist gut, Tata."
Wir verliessen die Höhle also wieder. Kilia ging voraus. Als wir beim Eingang angekommen waren, erschien es mir plötzlich, als wäre er hell erleuchtet, und Kilia würde direkt ins Licht gehen. Das war seltsam, schliesslich regnete es immer noch aus einem wolkenverhangenen Himmel und es schien keine Sonne. Was war es also dann? Aber als ich den Eingang durchschritten hatte, verschwand das helle Licht ebenso plötzlich, wie es gekommen war. Ich schaute mich verwundert um. Der Eingang sah so aus wie immer.
"Was ist, Tata?" fragte Kilia.
"Nichts", sagte ich, "eben war es mir so, als ich hätte ich ein Licht gesehen, aber es war wohl nur Einbildung. Lass uns losgehen."

Wir gingen zurück, nahmen aber einen anderen Weg, der direkt zur Markthalle führte. Die Markthalle war sowas wie der Supermarkt der Stadt - ein überdachter Marktplatz in einem viereckigen Gebäude, das so gross war wie eine Kirche. Ich kaufte dort Nüsse, eine Art Weintrauben und etwas Obst, um so im Zimmer jederzeit den kleinen Hunger stillen zu können. Dann begann mir langsam der Magen zu knurren, und wir kehrten zum Kurhaus zurück.
"Wo möchtest du essen, Tata? Im Speisesaal oder im Zimmer?" fragte Kilia.
"Lieber im Zimmer", antwortete ich. Der Speisesaal wäre zwar auch gross genug gewesen, aber bei diesem Wetter fand ich es im Zimmer gemütlicher.

Das Essen brauchte ich mir nicht auszusuchen, denn der Kurplan enthielt für jeden Tag eine Empfehlung. Natürlich konnte man stattdessen auch die Restaurants der Stadt aufsuchen und dort essen - musste das dann aber selber bezahlen. Mir gefiel die Küche des Kurhauses gut, ausserdem kannte ich die Köchin, eine dicke Frau mit sonnigem Gemüt, die genauso witzig wie energisch sein konnte und auch bereit war, für den einen oder anderen Gast keine kleine Variation im Menüplan vorzunehmen. Meine Poffjes waren da ein gutes Beispiel.
Kilia holte unser Essen. Ich hatte mir schon die Hände gewaschen, uns den Tisch zurechtgerückt und auf dem Bett Platz genommen. Wenig später erschien Kilia mit dem Tablett und deckte den Tisch. Dann verschwand sie kurz im Bad, um sich die Hände zu waschen. Danach setzte sie sich, faltete die Hände und sagte einen Gebetsspruch auf. Dabei fiel mir auf, dass sie schöne Hände hatte - es würde sich lohnen, sie nochmal anzuschauen.

Wir begannen zu essen. Mir fielen plötzlich noch ein paar Fragen ein, die ich Kilia stellen wollte, und jetzt war ein guter Zeitpunkt dazu:

"Kilia, warum bist du eigentlich Dienerin geworden?"
"Um meine Familie zu unterstützen", erklärte Kilia, "ausserdem male und zeichne ich gerne, und Papier und Stifte sind teuer. Meine Eltern würden es mir gern kaufen, aber sie sind zu arm."
Ich war überrascht. Normalerweise bestimmten die Eltern darüber, welche Berufe ihre Töchter ausüben sollten, um die Familie zu unterstützen.
"Haben deine Eltern dir die Wahl gelassen, welchen Beruf du haben willst?"
"Ja. Sie meinten, es wäre nicht gut, wenn man seine Tochter zu einem Beruf zwingt, sie wird nur krank dadurch."
"Was haben deine Eltern denn für Berufe?"
"Mein Vater ist Bauhelfer, meine Mutter war Dienerin und verkauft jetzt Kräutersammlungen an Apotheken."
Ich verstand. Ein Bauhelfer war praktisch nichts weiter als ein einfacher Arbeiter, der auf Baustellen dem Maurer, Zimmermann oder Polier zur Hand ging. Sie hatten für gewöhnlich keine richtige Ausbildung, denn die konnte man nur machen, wenn man lesen und schreiben konnte, und leider kam es immer noch vor, dass gerade bäuerliche Familien ihre Kinder nicht zur Schule schickten, weil sie für die Arbeit auf dem Bauernhof gebraucht wurden. Wahrscheinlich war Kilias Vater genau so ein Fall.
"Hat dir deine Mutter viel beigebracht, was man als Dienerin wissen muss?" wollte ich wissen.
"Ja, das hat mir sehr geholfen. Ich konnte meine Prüfung schon ein halbes Jahr früher machen, denn vieles kannte ich schon."
Ich nahm mir den mit Saft gefüllten Krug.
"Willst du auch was zu trinken?" fragte ich sie.
Kilia stutze. Normalerweise interessierte sich ein Gast nicht dafür, ob seine Dienerin etwas brauchte, sondern ging davon aus, dass sie sich darum selbst kümmerte.
"Ja, danke, Tata."
Ich füllte ihr Glas. Sie nahm es und trank, und dabei sah ich wieder ihre Hand.
"Kilia, darf ich mal deine Hand haben?"
Kilia sah mich verwundert an.
"Ja... ja sicher, Tata..." antwortete sie verwirrt.
"Keine Angst", sagte ich, "ich will sie nur kurz anschauen. Du bekommst sie gleich zurück."
Sie reichte mir ihre Hand, und ich schaute sie mir genau an. Sie hatte schlanke Finger mit kurzen Fingernägeln, sie sehr gepflegt aussahen. Kleine Risse und Verletzungen, allesamt gut verheilt, deuteten darauf hin, dass sie schwere Arbeit nicht scheute und fest anpacken konnte. Ihre Haut fühlte sich sanft und weich an, für mich ein Zeichen, dass ihre Hand auch genausogut für feinfühligere Tätigkeiten eingesetzt wurde, wie man sie zum Beispiel beim Zeichnen und Malen brauchte, und ich musste mir eingestehen, dass sie mir irgendwie gefiehl.
Ich gab sie ihr zurück. Kilia schien allerdings immer noch verwirrt zu sein.
"Ist... ist sie nicht sauber genug, Tata?" fragte sie etwas ängstlich.
Ich lachte.
"Doch, sehr sogar. Weisst du, man sagt, Augen sind der Spiegel der Seele, aber ich finde, Hände können viel mehr sagen. Du zum Beispiel pflegst deine Hände, das finde ich sehr schön. Das spricht auch dafür dein sorgsames Arbeiten."
"Danke, Tata", sagte Kilia merkbar erleichtert, "das ist nett von Euch."
"Weisst du, viele Leute achten nicht auf ihre Hände, und das finde ich schade. Hände sind ein unheimlich vielseitiges Werkzeug, man kann mit ihnen nicht nur Dinge anpacken, sondern auch streicheln oder trösten, zeigen, darstellen, erklären..."
"Malen, Zeichnen, Schattenspiele machen..." ergänzte Kilia.
"Ja, das auch", sagte ich amüsiert. Irgendwie hatte ich den Eindruck, sie würde mich verstehen.
"Hast du dich schonmal an der Hand verletzt? Ich habe eine kleine Narbe gesehen", fragte ich sie.
"Ja, ich habe mich mit einem Messer geschnitten, als ich Brot schneiden wollte. Es hat ziemlich weh getan."
Ich lachte.
"Sowas ist mir auch schon passiert, an meiner rechten Hand."
"Darf ich das mal sehen, Tata?"
Ich war überrascht. Kilia war die erste, die sich für meine Hand interessierte.
"Natürlich."
So reichte ich ihr auch meine Hand hin und zeigte ihr die Stelle, wo man noch eine Spur von einem Schnitt sehen konnte.
"Danke, Tata", sagte Kilia nach einer Weile, "ich hoffe, dass es Euch nicht wieder passiert."
"Sagen wir besser: Dass es uns nicht mehr passiert", berichtigte ich sie.
Sie lächelte.
"Ihr seid nett, Tata."
Es war ein sehr schönes Kompilment, und es klang ehrlich gemeint.
"Danke, Kilia."
Nachdem wir fertig gegessen hatten und Kilia das Tablett weggebracht hatte, verbrachten wir den Rest dieses verregneten Tages mit einem Besuch des städtischen Gartenhauses. Dieses grosse Haus lag am Eingang eines Gartens, der extra für Gäste angelegt worden war, damit sie dort spazierengehen oder dem Laufsport nachgehen konnten. Er bestand aus langen Alleen, vielen Hecken und einigen Hügeln und einer künstlichen kleinen Grotte, in der Wassabis schwammen, die unseren Karpfen ähneln, aber wesentlich bunter sind. Im Gartenhaus selber war ein kleiner Zoo untergebracht, der viele kleinere einheimische Tiere beherbergte. Daneben wurden darin auch Heilpflanzen und Blumen gezüchtet, und es war immer interessant zu sehen, was dort ablief. Der Gartenhausleiter, den wir dort auf der 2. Etage trafen, erzählte uns stolz, dass eine seltene Art von Pussamaris, die ähnlich aussahen wie Schmetterlinge, kurz vor dem Schlüpfen sei und wir doch in den nächsten Tagen unbedingt nochmal wiederkommen sollten. Und falls uns ein Rabutabu über den Weg liefe (ein Art kleines Schwein), sollten wir sofort rufen, es sei mal wieder eins ausgebrochen und er suchte schon die ganze Zeit danach. Ein Rabutabu zu finden war deshalb nicht leicht, weil es sich dank seines Fells gut tarnen konnte, denn wenn man nicht genau hinsah, war es von einem Haufen lockerer Erde nicht zu unterscheiden. Wir fanden es jedoch auch nicht, obwohl Kilia meinte, einmal sein leises Grunzen gehört zu haben, und so gingen wir gegen Abend wieder zurück und beschlossen, im Speisesaal unser Abendbrot zu essen.
"Bist du sicher, das Rabutabu gehört zu haben?" fragte ich Kilia, als wir fast mit dem Essen fertig waren.
"Eigentlich schon," sagte sie, "wir haben selbst eins zu Hause. Wir mussten extra einen Käfig dafür bauen, weil es sich immer wieder in unsere Speisekammern einschlich und unsere Vorräte anknabberte."
Rabutabus waren als Glücksbringer beliebt, aber auch dafür bekannt, sehr raffiniert zu sein und immer Wege und Mittel zu finden, um das zu bekommen, was sie haben wollten.
"Es sind schon verrückte Biester", lachte ich. Dann fragte ich sie:
"Wo frühstückst du morgen?"
"Im Wohnheim, wie jeden Tag."
"Dann schlage ich vor, wenn du ab morgen mit mir frühstückst. Allein macht mir das nämlich keinen Spass. Einverstanden?"
Sie lächelte.
"Ja, Tata. Gerne."
Nachdem wir uns verabschiedet hatten und ich mich in meinem Zimmer gewaschen und bettfertig gemacht hatte, wollte ich noch etwas lesen, aber meine Gedanken schweiften ab. Ich musste mir eingestehen, dass mir Kilias Art gefiel. Sie schien nicht nur sorgsam zu sein, sondern auch einen wachen Verstand zu haben, beides Eigenschaften, die ich an einer Person schon immer sehr schätzte. Natürlich kannte ich sie erst einen Tag, und es konnte noch viel passieren. Mit diesem Gedanken schlief ich ein.