Falschrichtigkeit

Diesen Tag hatten wir gar keinen gemeinsamen Unterricht, und das war auch gut so, denn mein Tischnachbar war wieder da. Da er mein Kumpel war, konnte ich ihm also in Ruhe alles erzählen. Leider gab es in unserer Klasse nämlich außer unserem Witzbold noch ein paar andere komische Typen, und wenn von uns einer mal in der Klemme steckte und der andere ihm beistehen wollte, mußte er auf dem laufenden sein. Mein Tischnachbar nahm die Schilderungen über die Ereignisse der letzten Tage gelassen hin und gab nur ab und zu ein paar sarkastische Bemerkungen von sich, was typisch für ihn war, denn wannimmer ihm etwas nicht in den Kram passte, verteilte er ausgiebig bissige Kommentare. Seine Lieblingsaussage bestand immer aus den Kürzeln LM und LK (was Lebensmut und Lebenskraft bedeutete). Wenn er mal sagte: »Heute habe ich nur zehn Prozent LM«, dann hieß das übersetzt: Ich habe tierisch schlechte Laune.
Heute war seine Laune jedoch zum Glück in Ordnung, und da der Tag ganz normal verlaufen war, dachte ich schon, alles wäre wieder wie gewohnt, und die Zeit der unerwarteten Zwischenfälle war vorbei. Aber natürlich sollte ich mich wieder irren.
Der nächste Tag war der letzte vor dem Wochenende. In der ersten Stunde, in dem wir wieder gemeinsam Unterricht hatten, bekamen wir zufällig eine Aufgabe, bei der jeder die Geschäfte des täglichen Bedarfs in seinem Heimatort nennen sollte. Auf diese Weise erfuhr also auch jeder, wo seine Mitschüler wohnten, was ich jedoch harmlos fand, da ich sowieso der einzige in der Klasse war, der gerade aus diesem Ort stammte. Aber es sollte noch ungeahnte Folgen für mich haben.
In der ersten großen Pause nach zwei Stunden Unterricht stand ich mit meinem Tischnachbar vor dem Vertretungsplan in der Pausenhalle, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippte.
Ich drehte mich ahnungslos um und mir fuhr sofort der Schreck in die Glieder, denn erstens war es sie und zweitens schien sie etwas von mir zu wollen.
»Ja?« fragte ich überrascht.
»Ich... ich muß dich mal was fragen« begann sie ein wenig unsicher.
»Was denn?«
»Vorhin, als wir sagen mußten, welche Geschäfte es in unserem Heimatort gibt, da hast du doch gesagt, wo du wohnst.«
»Ja, stimmt.«
»Ich wollte dich fragen, ob du in einer Fahrgemeinschaft mitfährst.«
Im Gegensatz zu den meisten Schülern an dieser Schule hatte ich schon einen Führerschein und ein eigenes Auto, es war zwar mehr eine Klapperkiste, die mir ein Onkel geschenkt hatte, weil er sie nicht mehr brauchte, aber besser als nichts. Und so holte ich jeden Morgen damit einen Kumpel, eine Schülerin und meinen Tischnachbarn ab und brachte sie nach der letzten Stunde wieder zurück. Natürlich konnte man auch mit der Bahn fahren, aber die hatte sehr schlechte Zeiten: Nahm man den ersten Zug, war man fast eine halbe Stunde zu früh da, und beim zweiten mindestens zehn Minuten zu spät. Wo es also ging, wurden Fahrgemeinschaften gebildet, die außerdem den Vorteil hatten, daß die Mitfahrer damit billiger fuhren als mit der Bahn.
»Ja, fahre ich. Warum?«
»Ich wohne ja in deinem Nachbarort. Würde es euch was ausmachen, mich mitzunehmen?«
Zack! Das war der Hammer, der die ganze Zeit über meinem Kopf gebaumelt hatte und nun auf mich heruntersauste. Mir war klar, daß mich das in eine Zwangslage brachte, denn nicht nur, daß ich sie täglich sehen würde und immer mit Überraschungen zu rechnen hatte, ich mußte auch die Leute meiner Fahrgemeinschaft fragen, ob sie mit einer neuen Mitfahrerin einverstanden waren. Wäre mein Tischnachbar nicht dagewesen, hätte ich sicher mit Überlegung antworten können, aber der nutze mein Zögern aus und antwortete ihr:
»Ja, wir sind nämlich schon voll.«
»Oh, schade« sagte sie daraufhin, und in ihren Augen las ich eine plötzlich Traurigkeit, so als hätte sich eine große Hoffnung in Luft aufgelöst und die ganze Mühe, die sie sich gemacht hatte, um mich zu fragen, wäte ein totaler Fehlschlag gewesen. Ihr Blick ging mir direkt unter die Haut und mitten ins Herz. Sie tat mir so leid, daß mich plötzliche Wut auf meinen voreiligen Tischnachbarn packte und ich ihn am liebsten vor das Schienbein getreten hätte.
»Moment, ich versuche das mal zu regeln« sagte ich ihr, drehte mich ruckartig um und lief aus der Pausenhalle nach draußen, wo es in Strömen auf mich herabregnete, aber ich nahm es gar nicht war. Ich brauchte jetzt erstmal Abstand.
Mein Tischnachbar war mir nicht ganz so schnell gefolgt, kam nun auch aus der Tür und rief mir zu:
»He, was ist denn mit dir los?«
»Sag mal, spinnst du? Ich wollte ihr gerade antworten, da redest du einfach darauflos!« schnaubte ich ihn an.
»Na und? Es stimmt doch, wir können keinen mehr mitnehmen. Das hatten wir doch auch so abgemacht.«
»Ja, aber das hättest du ihr ja nicht gleich auf die Nase binden müssen. Und so voll sind wir doch gar nicht, daß nicht noch einer mitfahren kann.«
Mein Tischnachbar stöhnte.
»Jetzt sag’ bloß, wegen diesem Weib willst du eine Ausnahme machen, oder was?«
»Ja, und?«
»Unser Witzereißer hatte schon recht, als er sagte, sie hat dich verhext.«
»Mir doch egal.«
»Mir doch egal«, äffte mein Tischnachbar nach, »ich geh’ jetzt wieder ‘rein, hab’ keine Lust, mir eine Erkältung zu holen.« Und schon war er weg.
Es war typisch für meinen Tischnachbar, er war bissig wie immer, und seine Laune hatte sich nun auch total verschlechtert. Sicher, unsere Fahrgemeinschaft war inzwischen zu einer Art geschlossenen Gesellschaft geworden und mit vier Leuten, mich eingeschlossen, hatte sie auch die ideale Anzahl. Trotzdem, auf eine Person mehr oder weniger kam es auch nicht mehr an. Ich wußte nur nicht, wie sie auf die neue Mitfahrerin reagieren würden, denn entweder hatten sie auch Angst vor ihrem dämonischen Blick, oder sie würden sie dulden. War es das Risiko wert? Auf der anderen Seite hätte es zumindest den Vorteil, daß der Anteil am Benzingeld für jeden kleiner würde, das Fahren wäre somit für alle billiger.
Von meinem Tischnachbar wußte ich schonmal, daß er weder von ihr noch von der Idee, sie mitfahren zu lassen, etwas hielt. Also blieb mir nichts anderes übrig, als meine zwei restlichen Mitfahrer zu fragen. Und wenn nun einer dagegen war und einer dafür? Dann wäre ich inmitten einer Pattsituation.
Es war wie ein Teufelskreis: Wenn ich zustimmte, konnte sie sich freuen, aber ich bekam dann möglicherweise Ärger mit meiner Fahrgemeinschaft. Lehnte ich jedoch ab, konnte sich zwar meine Fahrgemeinschaft freuen, aber ich würde mir wie ein Lügner vorkommen, wenn ich ihr einfach sagte, es ginge nicht, obwohl dies ja eigentlich nicht stimmte. Egal was ich auch tun würde, es würde zur Hälfte richtig und zur anderen Hälfte falsch sein, und damit lernte ich die dritte Seite der sieben Seiten der Seltsamkeiten kennen: Falschrichtigkeit.
Inzwischen war mein Haar fast klitschnaß, Regentropfen rollten mir über die Stirn und in den Nacken hinein, und so langsam sah ich aus wie ein begossener Pudel. Obwohl ich die ganze Zeit auf- und abgegangen war, begann ich langsam zu frieren und kam mir vor wie bei einer Mathearbeit, bei der ich bei einer Aufgabe einfach nicht weiterkam, nur im Gegensatz dazu konnte ich hier nicht mal eine Probe machen.
Moment - Probe?
»Probe« sagte ich zu mir und begann unbewußt zu grinsen. Natürlich, das war es! Damit schlug ich glatt zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens brauchte ich meine Fahrgemeinschaft nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen, und zweitens war eine Probezeit sowas wie eine Gnadenfrist, in der viel passieren konnte.
Ich war gerettet und fühlte mich gleich um ein Vielfaches besser. In diesem Moment klingelte es auch schon. Mit Elan stieß ich die Eingangstür auf, lief durch die Pausenhalle, die Wendeltreppe hoch und schließlich auf den Raum zu, in dem der nächste Unterricht stattfand.
»Was ist denn mit dir los?« fragte mich eine Klassenkameradin überrascht, die mit den anderen vor der verschlossenen Tür stand und auf den Lehrer wartete. Ich bekam das gar nicht mit, sondern wandte mich sofort an meinen Tischnachbarn, dem die Abscheu vor meiner triefend nassen Erscheinung im Gesicht abzulesen war.
»Probe«, keuchte ich atemlos.
»Hä? Was?«
»Zur Probe. Wir könnten sie doch einfach mal... zur Probe mitnehmen. So für.... eine Woche.«
»Du spinnst wohl! Auf keinen Fall!«
»Doch... es ist doch nur für eine Woche.«
»Verdammt nochmal, ich will das aber nicht! Es ist schon so eng genug auf der Rückbank, und wenn sie noch dazukommt, dann muß man sich ja noch mehr quetschen. Dir kann das ja egal sein, du sitzt ja immer vorn, aber so kann man sich ja bald nicht mehr rühren!«
Es war mein Tischnachbar, so wie er nunmal war.
»Ok, dann kannst du dich von jetzt ab immer auf den Beifahrersitz setzen. Ist das in Ordnung?«
»Das ist doch Quatsch, da sitzt ja schon dein anderer Kumpel und der wird sicher nicht begeistert sein, wenn er das hört. Überhaupt, was soll das eigentlich? Ich bin jedenfalls dagegen, und dein Kumpel und die Tusse sicher auch.«
Auch das war typisch für meinen Tischnachbar. Andere Leute sagten »Mädchen«, er nannte sie immer nur »Tusse«, egal ob sie das nun verdient hatte oder nicht. So ganz unrecht hatte er natürlich nicht, ich konnte nicht sicher sein, ob die beiden anderen der Sache zustimmen würden. Aber ich hatte noch einen Trumpf im Ärmel.
»Dann geh’ du zu ihr und sag’ ihr, daß es nicht geht, weil du dagegen bist.«
»Das gibt’s doch nicht,« fluchte mein Tischnachbar, »du willst doch unbedingt, daß sie mitfährt, das ist ja wohl nicht mein Problem. Außerdem mußt du erst noch die anderen fragen.«
Ich sah ein, daß es keinen Sinn mehr hatte, weiter mit meinem streitlustigen Tischnachbarn zu diskutieren, er hatte sich halt dagegen entschieden und wollte auch dabei bleiben. Dabei war so eine Diskussion mit ihm nichts Ungewöhnliches, denn ich hatte noch keinen einzigen Tag erlebt, an dem er sich sich nicht mal über irgendwas aufregte. Aber mich ärgerte seine Uneinsichtigkeit und sein Egoismus, und das ließ ich ihn wissen, indem ich mich brummig und schlechtgelaunt gab und nur die allernotwendigsten Worte mit ihm wechselte. Das ging die ganze folgende Doppelstunde so, und am Ende des Unterrichts wollte mein Tischnachbar wissen, ob ich das so weitermachen würde.
»Daran bist du selber schuld!« antwortete ich.
»Meine Güte, ich will’s nunmal nicht, ich kann ja wohl noch meine Meinung sagen.«
»Es ist doch nur auf Probe und außerdem nur eine Woche, das ist doch nicht gleich der Weltuntergang.«
»Oh Mann«, stöhnte mein Tischnachbar, schaute eine Weile weg und sagte dann:
»Na gut, meinetwegen, aber nur eine Woche!«
Ich hatte Mühe, nicht zu grinsen, und fragte mich, warum er immer erst ein so großes Theater machte, wenn er es schließlich doch einsah. Aber so war er nunmal.
Wie erwartet kam jetzt die große Pause, in der ich meinen anderen Kumpel zuerst nicht entdecken konnte, dafür aber die Schülerin.
»Noch jemand?« fragte sie verwundert, als ich ihr von der neuen Mitfahrerin erzählte. Dann fragte ich, wie sie dazu stand.
»Na gut«, sagte sie schließlich wenig begeistert, aber es war immerhin keine Ablehnung, und mehr wollte ich nicht. Ich machte auf dem Absatz kehrt und suchte meinen anderen Kumpel außerhalb der Pausenhalle. Endlich fand ich ihn in der Nähe des Hausmeisterzimmers, wo er sich gerade mit einem mir unbekannten Mädchen unterhielt. Nachdem ich ihm kurz alles erklärt hatte, meinte er:
»Tja, begeistert bin ich nicht gerade davon, aber wenn die anderen nichts dagegen haben - von mir aus.«
Das war nicht gerade feurig, aber es reichte völlig. Damit waren die Fronten geklärt und die Gefahr eines unangenehmen Konfliktes gebannt. Ich fühlte mich aber nun noch nicht erleichtert, denn jetzt mußte ich sie finden und ihr mitteilen, daß es doch ging. Aber würde sie mir glauben? Es konnte gut sein, daß sie ablehnte, um nicht mit irgendeinem meiner Mitfahrer in Steit zu geraten oder stumm abgelehnt zu werden.
Ich fand sie in der hintersten Ecke der Pausenhalle, wo sie gerade eine Mappe durchlas.
»Entschuldige«, sagte ich, als ich vor ihr stand. Sie hatte mein Kommen gar nicht bemerkt und schaute überrascht auf.
»Hm?« sagte sie, und ihre Miene war gar nicht mal verärgert, sondern eher ein Ausdruck von Neugier und Aufmerksamkeit. Ich überlegte kurz, dann sagte ich:
»Also, ich hab’ die Angelegenheit mit meiner Fahrgemeinschaft besprochen. Sie sind einverstanden, daß du nächste Woche probeweise mitfährst, mein Tischnachbar übrigens auch.«
»Wirklich?« fragte sie und lächelte wieder. Es war wieder dieses faszinierende Lächeln, das nur sie hatte, und für einen Bruchteil einer Sekunde war ich der Welt entrückt, hatte allen Krach und Ärger vergessen und es kam mir vor, als wäre ihre angenehme Stimme zu einem Chor wohlklingender weiblicher Stimmen angewachsen, die den Eindruck vollkommender Zufriedenheit wiedergaben. Es war einfach herrlich.
Ich mußte wohl genickt haben, denn jetzt sagte sie:
»Ich stehe dann am Montag an der Kreuzung. Wann seid ihr da?«
Ich sagte ihr die Uhrzeit.
»Gut. Also dann bis nächste Woche und vielen Dank!«
Sie stand auf und verließ ihren Platz. Wohin sie ging, wußte ich nicht, aber es war im Moment auch nicht wichtig. Ich war einfach nur froh, diese Sache doch noch gut geregelt zu haben. Und ich hatte wieder ein beeindruckendes Erlebnis mit ihrer Stimme gehabt. Die ganze folgende Stunde dachte ich noch daran und bekam das Unterrichtsende gar nicht mit. Mein Tischnachbar war schon in die Pausenhalle gegangen und hatte dort meinen anderen Kumpel getroffen. Da ich nicht dazukam, gingen sie zurück in den Klassenraum und sahen mich dort gedankenverloren aus dem Fenster schauen.
»He, hallo, aufwachen!« ulkte mein Kumpel, »ist alles in Ordnung?«
»Nein«, sagte mein Tischnachbar, »sie hat ihn wieder verhext!« und lachte.