Rettung aus der Hölle

Ich weiß noch, es war damals im tiefsten Winter, es herrsche eine klirrende Kälte und überall lag Schnee. Der Abend war so dunkel, wie der Morgen begonnen hatte, und ich war auf dem Weg zu meiner Wohnung. Dabei dachte ich viel an Kikubashi Tengoku, meinen Schutzengel. Sie hatte mir ja gesagt, wann immer ich sie bräuchte, sollte ich das Amulett nehmen und ihren Namen rufen, das hatte ich in den vergangen Tagen auch ein paar Mal getan, aber sie war zu meiner Überraschung nicht gekommen. Nun dachte ich natürlich immer wieder darüber nach, woran das gelegen haben könnte, ob sie vielleicht zu beschäftigt war oder ich etwas getan hätte, durch dessen ich nicht mehr würdig war, von ihr besucht zu werden. Aber so intensiv ich auch darüber nachdachte, mir fiel kein plausibler Grund ein. Trotzdem wollte mich diese Sache nicht loslassen und brachte mich immer wieder ins Grübeln.
Gerade hatte ich die Treppen vor der Tür meiner Wohnung erreicht, da hörte ich plötzlich einen Schrei: "Achtung, duck dich!".  In diesem Augenblick warf mich jemand auf den Boden und ein roter Strahl sauste über meinen Kopf hinweg, traf den Baum vor mir, ließ ihn aufglühen und verschwinden. Dann blitzte es ein paar Mal hinter mir, es knallte, und dann war es plötzlich still.
DimidoniaVerwundert stand ich wieder auf und drehte mich um. In wenigen Metern Entfernung sah ich eine schwarze Gestalt stehen. Sie sah aus wie eine junge Frau mit einem schwarzen Wintermantel, kniehohen Stiefeln und einer Wollmütze.  Ihr Haar war rot und lang, wobei ihr der Pony über das linke Auge fiel. Eigentlich hätte ihr Anblick nichts Ungewöhnliches dargestellt, wenn ihre Augen nicht auffällig rot geschimmert hätten.
Sie kam langsam auf mich zu, und als sie vor mir stand, sagte sie:
"Du bist in Gefahr!"
Ihre Stimme klang menschlich, hatte aber einen dämonischen Unterton.
"Wer ... bist du?" wollte ich wissen.
"Ich bin gekommen, um dich zu warnen", sagte sie, "Kikubashi Tengoku kann dir nicht helfen."
"Wo ist sie? Was ist mir ihr?" fragte ich sie, ohne darüber nachzudenken, woher sie Kikubashi überhaupt kannte.
"Karrak hat sie gefangen. Und er sagt, er wird sie so lange in der Hölle schmoren lassen, bis du dich freiwillig stellst."
“Wer ist Karrak?”
“Karrak ist ein Dämon. Ein sehr mächtiger Dämon und Herrscher über den Vorort der schwarzen Hölle.”
Ich schaute der Fremden jetzt genau ins Gesicht.
“Warum sagst du mir das?” frage ich sie jetzt.
“Karrak hat mir den Auftrag gegeben, dir diese Nachricht zu überbringen”, antwortete sie.
“Dann bist du auch ein Dämon?”  stellte ich verwundert fest.
Sie nickte.
“Aber nur ein halber. Mein Vater ist ein Dämon. Meine Mutter war eine Priesterin”.
“Und wie heißt du?”
“Dimidonia.”
Ich überlegte kurz, dann sagte ich:
“Dimidonia, mir ist kalt, ich würde mich gern etwas aufwärmen und mit dir alles weitere besprechen. Kommst du mit?”
Sie nickte.
Ich öffnete die Tür ließ sie herein und machte das Licht an. Dabei fiel mir sofort auf, dass das helle Flurlicht ihre Augen blendete. Das war typisch für Dämonen. Sie kamen gut mit Dunkelheit und Rauch zurecht und konnten im Gegensatz zu Vampiren sogar Sonnenlicht aushalten, aber allzu helles Licht war nicht gut für ihre empfindlichen Augen. Also machte ich das Flurlicht sofort wieder aus.
"Entschuldige, ich hatte vergessen, dass dieses Licht dich blendet", sagte ich.
"Schon gut", antwortete sie.
Nachdem ich meinen Mantel ausgezogen hatte, bot ich ihr an, ihren ebenfalls auf die Gaderobe zu hängen, aber sie wollte ihn lieber anbehalten.
“Möchtest du etwas zu trinken?” fragte ich sie.
“Warum bist du so nett zu mir?” entgegnete sie mir mißtrauisch. "Ich bin ein Dämon. Man hat mir gesagt, du tötest Dämonen."
"Ja", gab ich freimütig zu, "aber nur, wenn sie mich dazu zwingen, nicht einfach so. Wundert dich das?"
Sie zuckte mit den Schultern.
“Du bist der erste Mensch, der nett zu mir ist”, antwortete sie.
Ich verstand. Dimidonia hatte es als Halbdämon besonders schwer, denn die Menschen fürchteten sich vor ihr, und für die echten Dämonen war ihre menschliche Seite eine Schwäche. So schien Ablehung und Verachtung für sie wohl normal zu sein.
"Hast du bisher nur unter Dämonen gelebt?" fragte ich sie.
Sie nickte.
"Fast. Meine Mutter ist kurz nach meiner Geburt gestorben. Danach kam ich in ein Waisenheim. Kurz, nachdem ich laufen konnte, habe ich mich einmal in den Keller verirrt. Dort hat mich ein Dämon zu Karrak gebracht. Er ist mein Vater."
Mittlerweile saßen wir am Küchentisch. Ich reichte ihr ein Glas Wasser und zündete eine Kerze an. Ihre Augen schienen im Dunkeln rot zu leuchten, das Kerzenlicht schien diese Wirkung sogar noch hervorzuheben.
"Dieser Knall vorhin, was war das?" fragte ich nun.
"Das war Zarrok. Ich musste ihn aufhalten, er hätte dich sonst umgebracht."
"Wieso?"
Sie blickte mich düster an.
"Wie gesagt, ich bin nur ein halber Dämon. Zarrok hasst alle Halbdämonen, deshalb macht er ihnen das Leben schwer und wollte meinem Vater mal wieder zeigen, dass ich seinen Auftrag nicht ausführen kann."
"Danke, dass du mir das Leben gerettet hast", sagte ich anerkennend. Zum ersten Mal sah ich in ihren Augen sowas wie einen kleinen Hoffnungsschimmer.
"Das Schlimmste hast du aber noch vor dir", mahnte sie.
"Kann sein, aber dafür habe ich ja mein Amulett", sagte ich.
"Kann ich es mal sehen?" fragte sie.
"Bitte", antwortete ich und legte es vor ihr auf den Tisch.
Sie schien erstaunt zu sein.
"Wieso gibst du es mir so einfach? Ich könnte es jetzt nehmen und einfach verschwinden."
"Ja, aber dann hättest du mich auch gleich umbringen und das Amulett deinem Vater bringen können. Aber er weiss sicher, dass das Amulett allein nichts nutzt. Ich soll es ihm bringen, richtig?"
Sie nickte.
"Und willst du es ihm geben?"
"Wenn ich damit Kikubashi retten kann, dann ja", bekräftigte ich ernsthaft.
"Du bist ein ungewöhnlicher Mensch, Dorian Damarowski. Ich werde dich in guter Erinnerung behalten."
Ihre Stimme hatte einen seltsamen Unterton, so als würde sie mich schon in der Vergangenheit sehen.
"Noch lebe ich", antwortete ich und nahm das Amulett wieder an mich. "Kannst du mir sagen, wie wir zu Kikubashi kommen?"
"Ja. Ich bringe dich hin. Ich brauche nur etwas Platz, um einen Kreis für das Portal zu zeichnen."
"Im Flur dürfte genug Platz sein."
Im Schein der Kerzen zeichnete Dimidonia mit einer Art Kreide einen Kreis mit einigen magischen Symbolen, der groß genug für uns beide war. Dann stellte sie sich hinein.
"Bist du bereit?"
Ich stellte mich neben sie.
"Ja."
Sie sprach eine magische Formel mit einer Stimme, die mir Schauer über den Rücken jagten. Während sie sprach, fingen die Symbole und der Rand des Kreises immer stärker an zu leuchten, erst gelb, dann immer mehr rot, und als sie die letzten Worte sprach, fuhren sie direkt aus dem Boden heraus, der sich auflöste und uns in die Tiefe riss. Für einen Moment hatte ich völlig die Orientierung verloren und wußte nicht mehr, wo ich war, um mich herum war alles schwarz und unter mir rot, und ich fiel und fiel und fiel und hatte plötzlich wieder festen Boden unter den Füssen.
Die Umgebung hatte sich total verändert. Der Himmel über mir war dunkelrot bis schwarz, die Landschaft bestand aus schwarzen Felsen und seltsamen Ruinen und ständig blitzte und donnerte es irgendwo. Und zu meiner Überraschung war ich offensichtlich allein, von Dimidonia fehlte jede Spur. Mitten zwischen zwei Donnern hörte ich sowas wie ein leises Wehklagen. So ging ich also in die Richtung, aus der es kam, und nachdem ich über ein paar Felsen geklettert war, sah ich vor mir eine tiefe Ebene,  die durch ein paar scheinbar erloschene Vulkane begrenzt wurde. Mitten in der Ebene lag ein Haufen schwarzer Kugeln, etwa so gross wie Autoreifen. Aber nirgendwo konnte ich Kikubashi sehen.
"Kikubashi!" rief ich, so laut ich konnte.
Kurz danach donnerte es wieder, dann ertönte ein grausames, tiefdunkles, spottendes Lachen, und eine schaurige Stimme fragte mich:
"Suchst du das hier?"
KarrakVor mir baute sich eine dunkle Gestalt auf, mindestens so gross wie ein Hochhaus, mit breiten, langen Hörnern auf dem Kopf, gelben, stechenden Augen, einem Gebiss mit lauter spitzen Zähnen und einem fellbedeckten Körper, aus dem Flammen und Rauch aufstiegen. Sie verbreitete einen beissenden Gestank.  Dann beugte sie sich herunter und zeigte mir ihre Krallenhand, worin eine durchsichtige Kugel lag, ebenso gross wie die anderen, und in der Kugel erkannte ich ein weibliches Wesen mit Flügeln und silberweissen Haaren.
"Dorian!" höre ich eine glockenreine Stimme. Es war die von Kikubashi. Obwohl sie in der Kugel gefangen war, konnte ich sie ganz deutlich hören.
"Dorian", sagte sie wieder, "schnell, lauf weg! Ich kann hier nicht raus. Karrak wird dich umbringen! Bring dich in Sicherheit!"
"Ich gehe nicht ohne dich!" rief ich zu ihr, und dann wandte ich mich Karrak zu.
"Was hast du mir ihr gemacht, Karrak?" schrie ich mit Wut in der Stimme.
Karrak lachte.
"Der grosse Dorian Damosch Damarowski sorgt sich um seine kleine Freundin.", spottere er. "Das ist ja rührend. Ich habe sie nur in Amarit eingesperrt. Wie du siehst, lebt sie noch. Wie lange, hängt ganz von dir ab."
"Lass sie frei!" forderte ich. "Du wolltest mich, und hier bin ich jetzt. Lass sie gehen."
Karrak lachte.
"Entweder, du gibst mir dein Amulett, oder ich zerschmettere diese Kugel auf dem Boden. Deine Freundin wird dann zu Engelsstaub und der Wind wird ihn in alle Richtungen verstreuen. Deine Entscheidung!"
"Dorian, tu das nicht!" rief Kikubashi fast flehend. Sie versuchte, sich aus der Kugel zu befreien, schleuderte Blitze, rüttelte und warf sich dagegen, aber alles vergebens.
"Deine Entscheidung, Dorian!" rief Karrak, nun deutlich lauter. Er wurde langsam ungeduldig.
Ich holte mein Amulett aus meinem Hemd und tat, als würde ich es ihm übergeben wollen. Doch dann sprach ich schnell eine magische Formel, die mir Kikubashi beigebracht hatte. Sie lautete übersetzt etwa "Lass deine Kräfte frei". Das Amulett fing daraufhin an, zu leuchten und erste Lichtstrahlen durch die Dunkelheit zu schicken, da packte mich Karrak mit seiner Riesenhand, entriss es mir und warf mich auf den Boden wie Abfall. Laut lachend nahm er es, sprach eine magische Formel und kurz darauf war es ebenso in einer durchsichtigen Kugel eingeschlossen.
"Du hast wohl geglaubt, du kannst mich überlisten, du Wurm. Es ist immer das gleiche mit euch Menschen. Auch wenn ihr keine Chance habt, wollt ihr noch die Helden spielen."
Mir wurde klar, dass ich verloren war. Ohne das Amulett hatte ich nichts, mit dem ich mich verteidigen konnte. Jetzt konnte mir nur noch ein Wunder helfen.
"Dimidonia!" rief ich in die Dunkelheit hinein.
Karrak lachte amüsiert.
"Von Dimidonia kannst du keine Hilfe erwarten, du Dummkopf. Sie ist meine Tochter. Und sie hat meinen Auftrag wiedermal perfekt ausgeführt."
"Ja, nachdem du Zarrok hinterhergeschickt hattest", ergänzte ich.
Karrak lachte lauthals.
"Natürlich. Sonst wäre es ja zu leicht für sie gewesen. Sie ist eine verdammt gute Kämpferin."
"Du solltest sie besser beschützen, statt sie in Gefahr zu bringen", erklärte ich.
"Schutz", knurrte Karrak laut, "Schutz ist was für Schwächlinge! Dämonen brauchen keinen Schutz."
"Vielleicht nicht, aber deine Tochter ist zur Hälfte Mensch. Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, was Schutz ist."
Karrak schien jetzt auf das Lachen verzichten zu wollen. Er wurde ernst.
"Das hat nichts zu bedeuten. Sie ist durch und durch ein Dämon. Sie hat grössere Kräfte, als du es dir vorstellen kannst."
"Aber die grösste Kraft hat sie noch gar nicht kennengelernt", rief ich.
"Was soll das sein?" fragte Karrak.
"Liebe. Freundschaft. Und das gute Gefühl, ein echtes zu Hause zu haben", antwortete ich.
"Du Narr! Liebe ist etwas für Menschen. Für Schwächlinge. Macht ist alles, was zählt."
"Die Liebe ist stärker als der Tod", entgegnete ich. "Sie ist die grösste Kraft des Universums. Ich wette, sie weiss nicht einmal, was eine Umarmung ist."
"Schluss jetzt!" schrie Karrak so laut, dass mir meine Ohren dröhnten, "Sie braucht das nicht. Und du brauchst es jetzt auch nicht mehr!"
Aus seinen Augen fuhren Blitze direkt auf mich zu. Ich rannte davon, so schnell ich konnte, und rief dabei mehrmals nach Dimidonia. Aber von ihr gab es weit und breit keine Spur. Ich rannte zwischen Felsen hindurch und suchte irgendwo Deckung, aber Karrak zerstörte alles hinter mir mit seinen grellen Blitzen. Es qualmte, Steine folgen durch die Luft, einige davon streiften mich und versetzten mir blutige Schrammen, und immer wieder fiel ich hin und rappelte mich wieder auf, aber durch das Feuer und den Rauch um mich herum konnte ich mich kaum noch orientieren und die heisse Luft nahm mir immer wieder den Atem. Hustend, schwitzend und völlig erschöpft sank ich schließlich in einer kleinen Grube nieder und erwartete mein Ende.  Ich konnte nicht mehr.
"Psst!" hörte ich eine Stimme. "Dorian!"
Mühsam sah ich durch den Rauch und sah eine weibliche Gestalt. Mehr konnte ich aber nicht erkennen.
"Ja?" sagte ich und musste wieder husten.
"Ich bin es, Dimidonia. Hör zu, wir haben nicht viel Zeit. Ich kann Kikubashi retten, aber dann musst du dich opfern. Mein Vater hat mir die Macht gegeben, Wünsche zu erfüllen. Aber dafür muss ich dann die Seele von demjenigen nehmen, der sich was wünscht. Willst du das?"
Ich nickte.
"Wenn Kikubashi dadurch hier rauskommt, dann mach das. Ich werde .... ich werde hier sowieso sterben", antwortete ich.
"Ist gut. Nenne mir deinen Wunsch."
"Ich wünsche mir, dass Kikubashi frei ist und hier raus kann."
"Ich werde deinen Wunsch erfüllen", sagte Dimidonia mit ihrer dämonischen Stimme.
Wieder donnerte es, und gleich würde Karrak hier sein.
"Ich vertraue dir", sagte ich. Dann wurde mir schwarz vor Augen, ich fiel in ein dunkles Loch und spürte nichts mehr.

Ich fühlte mich, als würde ich in einer schwarzen Dunkelheit schweben, ich sah nichts, ich fühlte nichts, und ich dachte nichts. Dann aber war es mir, als hätte ich etwas gehört. War da wirklich was gewesen? Da, jetzt wurde es langsam lauter.  Da waren Stimmen. Zuerst waren sie ganz leise und weit weg, dann kamen sie langsam näher und wurden lauter. Und dann kam da dieses Licht. Zuerst war es winzig, dann wurde es immer grösser und strahlender. Irgendwas packte mich. Ein Ruck schien durch meinen Körper zu gehen. Ich fiel und setzte plötzlich auf dem Boden auf. Meine Augen öffneten sich.
"Dorian?" frage eine glockenreine Stimme.
Ich sah Kikubashi vor mir.
"Kiku!" sagte ich. "Wo... wo bin ich? Bin ich im Himmel?"
Kikubashi lachte, so süß und klar, wie es nur Engel können.
"Nein. Du bist zu Hause, in deinem Bett."
Noch immer etwas benommen, setzte ich mich auf. Dann sah ich ihr ins Gesicht.
"Kiku! Ich bin so froh, dass du da bist!"
Dann umarmte ich sie. Kikubashi legte ihre Arme um mich. Es ist immer ein wunderschönes Gefühl, von einem Engel umarmt zu werden. Man spürt dann so viel Wärme und positive Energie, daß man sich gleich viel besser fühlt, egal was einem passiert ist. Zudem heilt so eine Umarmung alle Wunden, gleich ob körperlicher oder geistiger Art.
"Danke, dass du mich gerettet hast", sagte Kikubashi. Sie lächelte mich an, und in ihrem Lächeln lag ein faszinierender Engelszauber inne.
Ich schaute sie an.
"Aber... warum bin ich hier?" wunderte ich mich, "Müsste ich nicht tot sein?"
Kikubashi lächelte geheimnisvoll.
"Nein. Dimidonia hat dich nicht getötet. Sie hat dir nur deine Seele genommen und dich in Stein verwandelt. Daraufhin ist mein gläsernes Gefängnis auseinandergebrochen. Das hat Karrak nicht gemerkt, weil er dich immer noch gesucht hat.  Ich bin dann schnell zu Dimidonia geflogen und habe deine Seele wieder in deinen Körper zurückgeführt. Danach bin ich mit ihr aus der schwarzen Hölle geflohen, bis wir wieder hier in deinem Haus waren".
"Jetzt muss ich dir danken, dass du mich gerettet hast", sagte ich und umarmte sie erneut. Kikubashi kicherte.
"Das ist doch mein Job", sagte sie.
Ich schaute mich um.
"Ich muss mich auch bei Dimidonia bedanken. Weisst du, wo sie ist?"
"Da", sagte Kikubashi und deutete auf einen Schatten.
Aus dem Schatten löste sich eine Gestalt. Zuerst sah ich nur eine Silhouette, dann kam Dimidonia so hervor, wie ich sie kennengelernt hatte, bis sie schliesslich vor meinem Bett stand. Allerdings hatte sie es vermieden, mich anzusehen.
"Dimidonia, darf ich dich in Dankbarkeit umarmen?" fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. Zuerst war ich ein bisschen verwundert, offensichtlich hatte ich was falsch gemacht.
"Entschuldige", sagte ich, "ich wollte dir nicht zu nahe treten. Es tut mir leid."
"Du bist mir nicht zu nahe getreten", antwortete sie. "Es ist nur ... ich bin es nicht wert, umarmt zu werden."
Ich schüttelte den Kopf.
"Doch, das bist du. Du hast mich und Kikubashi gerettet!"
Sie schloss die Augen und senkte den Kopf.
"Ich habe meinem Vater geholfen, Kikubashi in eine Falle zu locken. Ich habe dich in die schwarze Hölle gebracht und dann allein gelassen. Ich bin böse."
Ich lächelte.
"Wärst du wirklich böse, hättest du mir und Kikubashi nicht geholfen. Du musstest diese Dinge tun, weil du ein Dämon bist. Du bist aber auch ein Mensch. Ein Mensch, der ein Recht auf Respekt hat, auf Freundschaft und Vertrauen. Und darauf selbst zu entscheiden, was er tun will.  Ich werde dir gern dabei helfen. Bei mir bist du willkommen!"
Sie schaute mich zum ersten Mal an.
"Heisst das ...  ich kann hier bleiben?"
"Ja. So lange du willst."
Sie nickte. "Danke."
"Herzlich willkommen in meiner Welt", sagte ich und breitete die Arme vor ihr aus. Sie schaute mich eine ganze Weile verwirrt an.
"Was soll ich tun?", fragte sie.
"Mach einfach einen kleinen Schritt nach vorn", schlug ich vor.
Sie zögerte, dann machte sie einen Schritt nach vorn. Ich umarmte sie behutsam und löste die Umarmung dann wieder.
Sie blinzelte.
"Das fühlt sich ... gut an", sagte sie, ohne zu lächeln. Aber ihr rotes Auge schimmerte wieder. Ich wußte inzwischen, dass dies ein sicheres Zeichen war, dass sie sich freute.
Ich nickte.
"Für mich auch."
Mir fiel etwas ein.
"Kiku, jetzt wo das Amulett weg ist, wie kann ich dich rufen?"
Kikubashi lächelte.
"Es ist nicht weg. Hier ist es. Du kannst es zurück haben", sagte sie und übergab es mir.
"Aber ... wie hast du es bekommen? Karrak hatte es doch in einer Kugel eingeschlossen."
Kikubashi nickte.
"Ja, dieser Kugelzauber ist sehr schwer zu brechen, selbst für mich. Ich allein hätte eine Menge Zeit dazu gebraucht. Aber Dimidonia hat mir geholfen. Karrak hat nicht übertrieben, sie hat wirklich enorme Kräfte."
Ich schaute Dimidonia an.
"Ich finde es toll, dass du so mutig warst, Dimidonia. Aber warum hast du uns eigentlich geholfen?"
Dimidonia erklärte nun mit den Augen auf dem Boden und scheinbar gleichgültiger Stimme:
"Ich bin im Dämomenreich aufgewachsen und wollte immer dazugehören. Deshalb habe ich immer alles getan, was mein Vater von mir verlangt hat. Bis der Tag kam, an dem ich mich einmal geweigert habe. Dafür hat er mich schwer bestraft. Von da an wusste ich, dass ich nur seine Sklavin war. Ich wollte es nicht länger sein, aber ich wusste auch nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Bis du kamst."
Jetzt schaute sie mich direkt an.
"Wieso hast du mir vertraut?"
Ich lächelte.
"Weil du es auch getan hast. Das ist der Anfang einer jeden Freundschaft."
Sie nickte nachdenklich.
"Darf ich mal fragen, warum Du dein Haar über das linke Auge fallen lässt?"
Einen Augenblick zögerte sie, dann nahm sie es beiseite und ich konnte den Grund deutlich sehen: Eine lange Narbe, die in der Höhe der Stirn anfing, direkt an ihrem Auge vorbeilief und erst kurz darunter endete, zeugte von einer ernsten Verletzung. Ihr linkes Auge selbst war seltsamerweise nicht rot, sondern schwarz.
"Das war mein Vater", erklärte sie, "als Strafe für meine Weigerung. Seitdem ist mein linkes Auge auch anders als das rechte."
"Das tut mir leid", sagte ich, und gleich darauf zu Kikubashi: "Kiku, sie steht von jetzt an unter meinem Schutz. Bist du einverstanden?"
"Natürlich", antwortete Kiku, "ich werde dich auch beschützen, Dimidonia."
"Danke", sagte sie. Ihre Stimme klang neutral, aber ich wusste, dass sie froh darüber war.
"Ich glaube, ich könnte jetzt mal was zu essen vertragen", sagte ich. "Es müsste noch Spaghetti da sein. Magst du auch was davon, Dimidonia? Kiku brauche ich ja nicht zu fragen, Engel brauchen ja kein Essen."
Dimidonia nickte.
"Ìch habe noch nie Spaghetti gegessen. Dämonen brauchen ja auch kein Essen, ich als Halbdämon aber schon. Deshalb haben sie mir immer das gegeben, was sie gerade hatten, egal ob das eklig war oder nicht."
"Na, dann wird das ja ein Festschmaus für dich", lachte ich, "ich gabe sogar noch etwas Pamesano-Käse da, dann schmeckt es noch besser. Du wirst sehen!"

Kikubashi beteiligte sich noch am Essen, indem sie die Teller und das Besteck auftischte. Dimidonia schmeckten die Spaghetti wirklich. Sie hatte zwar am Anfang etwas Schwierigkeiten mit Messer und Gabel, aber das hatte sie dann schnell im Griff. Als wir fertig waren, verabschiedete sich Kikubashi, und ich verbrachte den Rest des Tages damit,  mich mit Dimidonia zu unterhalten, wie man in der Menschen- und Dämonenwelt lebt und stellte einen Plan über das auf, was ich ihr in der nächsten Zeit beibringen und für das tägliche Leben noch besorgen musste. Sie kannte z. B. die lateinische Schrift nicht, auch einen festen Tagesablauf hatte sie bisher nie gehabt, und Kleidung brauchte sie auch noch. Im Gegenzug dazu brachte sie mir neue Methoden zur Dämonenabwehr, die Dämonenschrift und die Bedeutung magischer Zeichen bei. Sie unterzubringen war dagegen kein Problem, denn ich konnte ihr mein Gästezimmer geben, das sie für sich allein haben konnte. Natürlich war es erstmal ungewohnt für mich, einen ständigen Gast zu haben, aber ich gewöhnte mich schnell daran. Sie musste sich aber erstmal daran gewöhnen, dass man in der Menschenwelt im Gegensatz zur Dämonenwelt keine Angst davor haben musste, Fehler zu machen, und auch ruhig fragen konnte, wenn man etwas nicht verstanden hatte. Das klappte nach und nach immer besser. Bezeichnenderweise lächelte sie jedoch nie. Ich nahm mir aber fest vor, sie irgendwann einmal zum Lächeln zu bringen.

Dies sollte aber nur der Auftakt zu einer Reihe von Abenteuern sein, von denen ich damals noch nichts ahnte. Es war klar, dass diese seltene Art von Beziehung zwischen Engel, Mensch und Halbdämon von den übernatürlichen Mächten nicht einfach so hingenommen würde. Und es sollte sich noch erweisen, dass ich ihren Schutz mindestens so sehr brauchte, wie sie meine. Das sollte ich gleich bei meinem nächsten Abenteuer zu spüren bekommen, doch davon später mehr.